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  • Außenpolitik der Türkei

Das Ende des neo-osmanischen Traums?

Eine Analyse der außenpolitischen Achsenverschiebung der Republik Türkei

  • Hatip Dicle
  • Lesedauer: 9 Min.

Die Zusammenarbeit zwischen den USA und der AKP zur Zeit ihrer Machtübernahme im Jahr 2002 begann zunächst zur beiderseitigen Zufriedenheit. Die Türkei erhielt als Vorreiterin eines »gemäßigten Islams« sowohl aus den USA als auch aus Europa großes Lob. Der EU-Beitrittsprozess wurde beschleunigt. Im Zypernkonflikt war Ankara bereit, den Annan-Plan anzuerkennen. Aufgrund dieser Schritte erhielt die AKP sowohl von liberalen Kreisen im Inland als auch aus dem Westen bis 2009 viel Unterstützung. Doch in der Phase zwischen 2009 und 2011 veränderten sich die Vorzeichen. Einige bedeutende Ereignisse waren hierfür ausschlaggebend:

1. Mit der Ernennung Ahmet Davutoğlus zum türkischen Außenminister im Mai 2009 gewannen die neo-osmanischen Thesen in der AKP an Bedeutung und standen fortan auf der außenpolitischen Agenda.

Autor und Text
Hatip Dicle, geboren 1954 in Diyarbakır, ist Ko-Vorsitzender des politischen Dachverbandes Demokratischer Gesellschaftskongress (DTK). Der kurdische Politiker saß Anfang der neunziger Jahre für die HEP (Arbeitspartei des Volkes) im türkischen Parlament. Insgesamt 15 Jahre verbrachte er in türkischen Gefängnissen. Wegen politischer Verfolgung floh er nach Deutschland. Den Text »Das Ende des neo- osmanischen Traums?« verfasste Dicle für das Online-Dossier Türkei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Nebenstehende Version wurde stark gekürzt.

2. Nach dem Auftritt Erdoğans beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2009, wo er wütend das gemeinsame Podium mit dem israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres verließ, wurde er von der arabischen Öffentlichkeit als »großer islamischer Führer im Mittleren Osten« gefeiert. Dies verschaffte ihm Selbstvertrauen.

3. Der unter der Obama-Administration angekündigte militärische Rückzug aus Afghanistan und Irak weckte in der Türkei die Hoffnung, man könne das dadurch entstehende Vakuum selbst füllen.

4. Einige Ereignisse trugen zur Selbstüberschätzung Erdoğans bei. So die hohe Stimmanzahl für die Türkei bei der Wahl zum nicht-ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrates oder die erstmalige Ernennung eines türkischen Staatsbürgers zum Generalsekretär der Organisation für Islamische Zusammenarbeit.

5. Ebenfalls zu einer Selbstüberschätzung Erdoğans führten das wirtschaftliche Wachstum in der Türkei und die Wahlerfolge der AKP.

Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse begann die Türkei ihr außenpolitisches Engagement im Mittleren Osten sukzessive auszuweiten. Vor allem Syrien geriet hierbei in den Fokus. Vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs fanden rund 60 Treffen zwischen Baschar al-Assad und Ahmet Davutoğlu statt. Erdoğan und seine Frau verbrachten mit den Eheleuten Assad einen gemeinsamen Urlaub. Wenn es Kritik aus Europa für die Nähe zum Assad-Regime gab, erklärte die AKP, man bemühe sich darum, Reformen in Syrien voranzubringen und das Land näher an den Westen zu binden.

Doch als genau in dieser Phase der arabische Frühling ausbrach und in Ländern wie Tunesien, Ägypten oder Libyen die jeweiligen Organisationen der Muslimbrüder an die Macht gelangten beziehungsweise um die Macht kämpften, witterte Erdoğan eine historische Chance. Er und seine AKP sahen die Zeit für die Realisierung ihrer neo-osmanischen Träume gekommen. Dabei malten sie sich einen geografischen Raum aus, der von Tunesien, über Libyen, Ägypten, Gaza, Jordanien, Libanon, Syrien bis nach Südkurdistan (Nordirak) reichen sollte. In diesem Raum würde, so die Vorstellung, eine ähnliche Ideologie vorherrschend sein wie in der Türkei, die unter Erdoğans Führung zu einer regionalen Hegemonialmacht aufsteigen und zu einem Gegenpol zum Westen heranwachsen sollte. Vor diesem Hintergrund wurde mit den Muslimbrüdern ein enges Bündnis eingegangen. Um als regionaler Führer anerkannt zu werden, musste Erdoğan sich zudem der Palästina-Frage annehmen, was zu einem Großteil mit seinem Auftritt in Davos erledigt war. (...)

Erdoğans Übermut führte letztlich zu einem Fiasko für die Türkei. Sie verlor nicht nur ihre Rolle als Vorbild des »gemäßigten Islams«. Das allgemeine Chaos, welches auf den arabischen Frühling folgte, galt auch als das Ende des politischen Islams an sich. Es traten wieder radikal-islamistische Kräfte in den Vordergrund. Der Salafismus trat in der Barbarei des IS zum Vorschein. (...)

Während die USA daraufhin den Fokus in Syrien primär auf die Bekämpfung des IS legten, unterstützten Länder wie die Türkei, Saudi-Arabien und Katar weiterhin den IS und andere dschihadistische Gruppierungen mit allen Mitteln, um den Sturz des Assad-Regimes zu bewirken. Im Jahr 2015 mischte sich schließlich Russland direkt ins Kriegsgeschehen ein. Russland baute seine Militärstützpunkte im Süden und in anderen Teilen Syriens aus. Gleichzeitig errichteten die USA nördlich des Euphrat ständige Militärstützpunkte. Die Präsenz von globalen Mächten in Syrien vereitelte die Pläne der Türkei, das Land zukünftig zur eigenen Einflusszone erklären zu können. (...)

Diese Entwicklung stellte das vorläufige Ende der neo-osmanischen Träume Erdoğans dar. Der Preis für die fehlgeschlagene türkische Syrienpolitik war sehr hoch: Zunächst einmal führte sie zu einer bedeutenden Verschlimmerung der humanitären Krise in Syrien, was vor allem mit der Unterstützung von dschihadistischen Gruppierungen wie dem IS zu tun hatte. Der IS wurde schließlich für die Türkei selbst zum Sicherheitsrisiko, als es in den Metropolen des Landes und in Nordkurdistan zu Terroranschlägen kam. Das wiederum führte zum Einbruch der türkischen Tourismusbranche. Außerdem folgte aus der türkischen Syrienpolitik eine Vertiefung der diplomatischen Probleme mit Russland und Iran. Den Höhepunkt dieser Katastrophe aus AKP-Sicht stellte schließlich die Tatsache dar, dass nach Südkurdistan auch die Kurd*innen im Norden Syriens dabei waren, einen Autonomiestatus zu erlangen und Ankara dem kaum mehr etwas entgegenzusetzen hatte. (...)

Innenpolitisch zeigten sich die ersten Boten der Krise, als der islamische Orden des Predigers Fethullah Gülen Ende 2013 der AKP seine Unterstützung entzog. Seit 2002 hatte es eine enge Zusammenarbeit zwischen der Gülen-Organisation und der AKP gegeben. Doch der zwischen dem 17. und dem 25. Dezember 2013 an die Öffentlichkeit gebrachte Korruptionsskandal in den Reihen der AKP war letztlich ein Schlag der Gülen-Organisation gegen die alte Partnerin. Das aktuell in den USA laufende Verfahren gegen den iranisch-türkischen Banker Reza Zarrab ist eine Spätfolge ebenjener Enthüllungen. Mit diesem Skandal verschob sich der Fokus von Erdoğans Politik. Von da an war das politische Hauptziel der Machterhalt. Erdoğan wird seitdem von der Paranoia getrieben, dass der Westen ihn irgendwie zu stürzen versuche. Um dem entgegenzuwirken, suchte er neue Bündnispartner*innen, die er in den Reihen der Ergenekon-Gruppe fand. Ergenekon steht gewissermaßen für die Fortsetzung der Ideologie des Komitees für Einheit und Fortschritt, gilt als orthodox kemalistisch und ist innerhalb des türkischen Militärs weiterhin gut organisiert. Diesem Bündnis war es auch in Teilen geschuldet, dass die 2013 aufgenommenen Friedensgespräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK von Erdoğan wieder beendet wurden. Die neuen Bündnispartner*innen Erdoğans, zu denen neben der Ergenekon-Gruppe auch die faschistischen Parteien MHP, BBP und Vatan Partisi gehören, setzen auf einen kompromisslosen Krieg in Kurdistan.

Mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten erhofften sich Erdoğan und die AKP eine erneute Verbesserung der Beziehungen zu den USA. Doch auch hier sollten sie enttäuscht werden. Dabei hatte Erdoğan zunächst seinen Ton gegenüber Iran deutlich verschärft, um sich so dem US-Präsidenten anzubiedern. In einem Interview mit dem katarischen Fernsehsender Al Jazeera vom 19. April 2017 erklärte Erdoğan, man sei bereit, die Zusammenarbeit mit den USA zu vertiefen. Er sagte dort zudem, dass der persische Expansionismus so langsam auch ihm Kopfschmerzen bereite und dass die im Irak agierenden Hashd-al-Shaabi-Milizen nichts als Terroristen seien. Diese Aussagen Erdoğans führten zu Irritationen in Iran und im Irak. Doch er hatte seine Worte wohlüberlegt gewählt, um sich den USA als Bündnispartner anzubieten. Er sprach gar bewusst vom persischen statt vom schiitischen Expansionismus, um seine (ebenfalls überwiegend schiitischen) aserbaidschanischen und turkmenischen Bündnispartner nicht zu verärgern. Überhaupt stellte Erdoğan in dieser Phase die islamische Propaganda in den Hintergrund und berief sich stattdessen eher auf das Türkentum, um Trump besser zu gefallen.

Doch von Trump kam nicht die gewünschte Reaktion. Der US-Präsident und sein Stab zogen es vielmehr vor, zwischen dem sogenannten gemäßigten Islam und radikalen Islamisten keinen großen Unterschied zu machen. (...) Zu den außenpolitischen Prämissen der neuen US-Administration gehört es, die Beziehungen zu Israel wieder auf ein Topniveau zu heben und den radikalen Islam weltweit zu bekämpfen. Zudem soll der Einfluss Irans im Mittleren Osten zurückgedrängt werden. Hierfür soll die Zusammenarbeit mit den pro-amerikanischen sunnitischen Ländern intensiviert werden. Unter der Führung Saudi-Arabiens und Ägyptens wird die Bildung eines sunnitischen Blocks beabsichtigt.

Für Erdoğan ist aus den oben genannten Gründen kein Platz in den Plänen Trumps. Als Reaktion darauf trat die türkische Regierung innenpolitisch zunehmend repressiver auf und institutionalisierte den Faschismus im Land weiter. Außenpolitisch hingegen schwenkte die Türkei in Richtung Eurasien um und sucht seitdem verstärkt die Nähe zu Russland und Iran. So leitete die Türkei - wohlgemerkt weiterhin NATO-Mitglied - den Kauf des S-400-Luftabwehrsystems von Russland ein.

Sowohl die Außen- als auch die Innenpolitik des Landes werden derzeit maßgeblich vom Machterhaltungstrieb Erdoğans gesteuert. Dass der türkische Staatspräsident lautstark gegen die Entscheidung Trumps, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, protestierte, sollte ebenfalls vor allem dazu dienen, die eigenen Anhänger*innen bei der Stange zu halten.

Es ist bekannt, dass nach dem Sturz Mursis in Ägypten 2013 und dem vermeintlichen Ende des Projekts »gemäßigter Islam« die Türkei begann, islamistische Organisationen in Syrien, insbesondere den IS, massiv zu unterstützen. Parallel dazu hatte die Türkei ab 2013 auch begonnen, mit dem inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan Gespräche über ein Ende des bewaffneten Kampfes und die Lösung der kurdischen Frage zu führen. Diese Gespräche wurden über einen Zeitraum von fast zweieinhalb Jahren geführt, während derer sich beide Konfliktparteien an einen Waffenstillstand hielten. Ebenfalls in dieser Zeit, genauer im September 2014, hatte der IS seine Kräfte gebündelt und startete einen Großangriff auf den Kanton Kobanê. Ziel war die Auslöschung des Kantons. Ich gehe davon aus, dass dieser Angriff durch Anregung der Türkei zustande kam. Doch die Internationale Koalition entschloss sich letztlich, den Widerstand der YPG- und YPJ-Einheiten aus der Luft zu unterstützen und so dazu beizutragen, dass der IS - und mit ihm die Türkei - eine vernichtende Niederlage erlitt. (...)

Nach dem Sieg der YPG und YPJ in Kobanê suchte Erdoğan im Inland den bereits dargestellten Schulterschluss zu Ergenekon und anderen faschistischen Kreisen. Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit der AKP bei den Wahlen im Juni 2015 durch ein gutes Abschneiden der prokurdischen HDP verschärfte die AKP den Konflikt systematisch. Innerhalb der Türkei wurde eine umfassende brutale Offensive gegen kurdische Städte, Politiker*innen und Zivilist*innen umgesetzt. Parallel dazu wurden praktisch alle staatlichen Möglichkeiten in die Waagschale geworfen, um die Errungenschaften der Kurd*innen im Norden Syriens zu unterminieren. Selbst der südkurdischen KDP und ihrem Führer Masud Barzani, zu dem Erdoğan traditionell gute Beziehungen pflegt, begegnete die Türkei vor und während des Unabhängigkeitsreferendums im September 2017 äußerst feindlich.

***

Wie seine Vorgänger*innen wird auch Erdoğan am Ende verlieren. Aber solange nicht auch international eine klare Haltung gegenüber seiner Institutionalisierung des Faschismus im Inland und seiner kriegerischen Hegemonialpolitik im Ausland eingenommen wird, kann der Weg zu Frieden, Demokratie und Stabilität in der Türkei sowie im Mittleren Osten noch ein sehr sehr langer werden.

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