nd-aktuell.de / 24.02.2018 / Kultur / Seite 10

Für eine Nacht in einem anderen Licht

Perspektive Deutsches Kino: Der Dokumentarfilm »draußen« porträtiert einige obdachlose Männer

Celestine Hassenfratz
Fein säuberlich legt Elvis den Schal des 1. FC Köln auf ein Tischchen. Streicht die Enden glatt und platziert dann präzise eine bunte Primel im Topf mittig auf dem Schal. »Ordnung muss sein, Ordnung liegt mir im Blut«, sagt er in breitestem Fränkisch. Dann kämmt er seine schulterlangen weißen Haare glatt nach unten. Obenrum trägt er eine Lederjacke mit ärmelloser Jeansjacke darüber. Hinten drauf: Elvis. Der echte. Patron, Vorbild, Idol. Im Hintergrund: Das Rauschen der Kölner Stadtautobahn, nasskaltes Wetter, Brückenpfeiler. Seit Jahren schon lebt Elvis, der Mann, der sich so nennt wie der berühmte Rock ’n’ Roll-Musiker, hier draußen.

Draußen spielt der gleichnamige Dokumentarfilm der beiden Kölner Regisseurinnen Johanna Sunder-Plassmann und Tama Tobias-Macht, der soeben auf der Berlinale seine Premiere hatte. Neben Elvis werden drei weitere Männer, die ohne festen Wohnsitz leben, porträtiert: Peter, Sergio und Matze. Ausgehend von ihrem gegenwärtigen Rückzugsort, ihrem Schlafplatz, bietet der Film, in dem die Männer von sich und ihrem Alltag erzählen, Einblick in die Innenwelt der Porträtierten.

Da ist etwa Matze, der mit 14 Jahren von zu Hause weglief, fortan auf warmen Rohren in staubigen Heizungskellern schlief und schließlich begann, immer mehr die Natur als Rückzugsort zu suchen. Jetzt ist er um die 30 und schafft es mit ausgeklügeltem Erfindungsgeist, sich mit Tarnnetzen und Messern eine Behausung für die Nacht zu basteln. »Ich hatte neun Cent, als ich von zu Hause losgelaufen bin«, erzählt Matze und kocht auf einem kleinen Stövchen im Wald Haferflocken. In sein Notizbuch hat er logbuchartig eingetragen, wo er schon überall war. Der höchste Ort: 700 Meter im Schwarzwald, er erinnert sich, wie er nach dieser Nacht mitten in einer Wolke aufwachte. Matze bleibt nie lange an einem Ort und achtet penibel darauf, nichts zurückzulassen. Ganz so, als gäbe es ihn nicht. Die Haferflocken heute sind eher die Ausnahme. Sein Essen sucht er sich normalerweise im Wald, Pfeil und Bogen und ein Buch über Pilze trägt er bei sich.

Auch Peter besitzt Erinnerungsstücke. Solche, die vom Leben damals, und jene, die vom Leben heute auf der Straße erzählen. Der Kölner war in den 70er Jahren »Jugendprinz« des Kölner Karnevals. 15 000 Mark hat der Vater für die Rolle seines Sohnes als Prinz ausgegeben. Nach außen war es das perfekte Leben, die schöne heile Welt, »zu Hause war es Krieg«, erzählt Peter. Mit 19 musste er nach Streitigkeiten weg von zu Hause. Als Punk rebellierte er mit Schottenrock und Springerstiefeln gegen die elterlichen Konventionen. Peter hat über die Jahre mehrmals geheiratet, ist Vater von drei Kindern. Ein Hochzeitsfoto zeigt ihn als Punk mit rotem Irokesenschnitt, darüber hält der Pfarrer die Hand zum Segen. Als er auf der Straße landete, wusste er nichts von dem Leben da draußen, erzählt Peter, und weiter, wie ihm eine Prostituierte damals in der ersten Zeit geholfen hat, zu überleben. Peter hat früher Congas gespielt, heute klopft er virtuos auf einer Coladose und zeichnet liebevoll ein Schaukelpferd für seinen Freund Sergio, der mit ihm einige Zeit den Aufenthaltsplatz teilt. Peter erzählt von seiner Scham, so zu leben, wie er lebt. »Schmutzig, stinkend, als Müll.« Das sind die Wörter, die Peter benutzt, um zu beschreiben, wie er von außen gesehen wird. Nicht nur er, auch die Dinge, die er noch besitzt.

Die Regisseurinnen schaffen es mit »draußen«, den von ihnen Porträtierten einen Teil der Scham zu nehmen. Sie wollen zeigen, dass die Männer vor der Kamera mehr sind als ihr Klischee. Über ein Jahr lang haben die beiden Regisseurinnen Gespräche geführt, recherchiert, Menschen ohne festen Wohnsitz begleitet. Auf Ablehnung oder gar Gewalt seien sie dabei nie gestoßen, berichten sie. Es ging den beiden nicht allein um das Sichtbarmachen von Lebensgeschichten. »Die Protagonisten sollten für eine Nacht in einem anderen Licht dastehen.« Dafür haben die Regisseurinnen die Schlafplätze verwandelt und haben ausgehend von den Gegenständen, die Peter, Matze, Sergio und Elvis besitzen, einen neuen Raum geschaffen. »Dort, wo unsere Helden Schutz suchen, an ihrem Lagerplatz, entstanden individuelle Kompositionen, wie Bühnenkulissen.« In künstlerischen Arrangements haben sie die Messer, Zeichnungen, Elvis’ Cowboyhut, das Stövchen, eine Überraschungsei-Tänzerin und die anderen persönlichen Objekte angeordnet. Langsame Kamerafahrten zeigen sie. Die Bilder geben dem Zuschauer Platz für eine eigene Auseinandersetzung mit den Protagonisten des Filmes.

1958 hat Elvis den berühmten Elvis zum ersten Mal gehört. Seitdem ist er Fan. Seitdem ist seine Musik sein Lebenselixier. Elvis Presley ist derjenige Künstler, der ihn auch dann immer wieder nach oben brachte, wenn er am Boden lag. Und solche Momente habe es viele gegeben in seinem Leben, erzählt der unbekannte Elvis. Etwa dann, als er die Mauern des Heims, in dem er aufgewachsen war, nicht mehr aushielt und immer wieder weglief. Das Heim war der Ort, an dem es überlebensnotwendig war, die Ordnung zu halten, für die er noch heute so penibel sorgt. Elvis war auch 1975 da. Damals, als seine große Liebe, Artistin und Tochter eines Schießbudenbesitzers, bei einem Unfall ums Leben kam. Nach dem Unfall beschloss Elvis, dorthin zu gehen, wo er meinte, herzukommen: auf die Straße.

Auch Sergio lebt dort draußen. Er kommt aus Kasachstan und kann wundervolle Geschichten erzählen. Mit Witz und Charme spricht er über seine Jugendstreiche und die kriminellen Erfahrungen. Wie ein Ladendiebstahl durch die Verkettung unglücklicher Umstände zu einem bewaffneten Raubüberfall mit Geiselnahme wurde und für ihn mit geprellten Rippen und Inhaftierung endete. Wie er als kleiner Junge, statt in die Schule zu gehen, mit dem einen Rubel, den ihm seine Mutter für das Essen gegeben hatte, ins Kino ging und drei, vier Filme am Tag schaute.

Der Dokumentarfilm »draußen« gibt uns einen Einblick in die Orte, an denen wir Menschen, die ohne festen Wohnsitz leben, begegnen. Es ist ein Blick hinter die Kulissen, ein Blick hinter das Klischee vom verlorenen, gescheiterten Menschen.

»draußen« porträtiert auf eindringliche Weise, mit genauem Blick und ohne zusätzliche Erläuterungen aus dem Off. Die Sprache des Films gehört Matze, Sergio, Elvis und Peter. Und so sind es auch Peters Worte, die beschreiben, worum es in »draußen« geht. Um eine selbstgewählte Lebensweise, welche in der Gesellschaft Anerkennung und Unterstützung finden sollte. »Ich kann gar nicht anders leben. Ich möchte gar nicht anders leben.«

»draußen«, Deutschland 2017. Regie: Johanna Sunder-Plassmann, Tama Tobias-Macht. 80 Min.