Wie der Wahnsinn entsteht

Leonhard F. Seidls Kriminalroman »Fronten« ist an einen Amoklauf vor 30 Jahren angelehnt, aber durchaus aktuell

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 4. März 1988 betrat im oberbayerischen Dorfen der Bürger Slobodan Stefanovic die Polizeiinspektion der Kleinstadt und erschoss drei Polizeibeamte, verletzte einige weitere schwer, bevor er selbst, von einer Kugel im Kopf getroffen, zusammenbrach. Nach sechs Tagen im Koma erlag er seinen Verletzungen. Der 37-jährige Maschinenschlosser stammte aus Jugoslawien, lebte seit 15 Jahren in Dorfen, in seinem Heimatort Ludwigshafen war er Mitglied im Sportschützenverein. Ein unauffälliger Mann, der aber zunehmend unter Wahnvorstellungen litt, weshalb ihm wenige Tage vor der Bluttat die Waffenbesitzkarte aberkannt worden war.

In Dorfen kam es in den folgenden Wochen zu ausländerfeindlichen Übergriffen. Menschen, die als Ausländer identifiziert wurden, wurden auf offener Straße angespuckt und beschimpft. Am 5. April überfiel ein 20-Jähriger die Filiale der Sparkasse in Dorfen und nahm Geiseln. Der Mann, der sich als Nazi bezeichnete, gab an, die Polizistenmorde rächen zu wollen. Er forderte ein Fluchtauto und den Austausch seiner beiden Geiseln gegen drei türkische Staatsangehörige. Der Mann konnte zum Aufgeben überredet werden.

Mehr als 28 Jahre später, am 19. Oktober 2016, schoss im fränkischen Georgensmünd Wolfgang P. auf Polizisten, die Waffen bei ihm sicherstellen wollten. Zwei Beamte wurden verletzt, einer starb. Das Landratsamt hatte vorher Zweifel an der geistigen Verfassung des »Reichsbürgers« geäußert.

Manchmal ist die Realität näher an der Fiktion als umgekehrt. Das ist auch in dem Kriminalroman von Leonhard F. Seidl so. Der Autor lebt in der der Gegend von Georgensmünd. Als er seinen Roman »Fronten« schrieb, konnte er noch nichts von der Bluttat des »Reichsbürgers« Wolfgang P. wissen; das Buch war noch nicht einmal auf dem Markt. Und doch hat er die Tat Wolfgang P.’s antizipiert. In »Fronten«, bereits im August 2018 erschienen, stammt der Täter, der die Polizisten erschießt, aus Bosnien, der Nazi, der die Tat rächen will, ist hier keiner, der sich zur Aufgabe überreden lässt, sondern selbst ein vom Wahn Verfolgter, der zur Waffe greift.

Seidl hat die Ereignisse von Dorfen in den fiktiven bayerischen Ort Auffing in das Jahr 2016 verlegt. »Fronten« erzählt in zeitlichen Sprüngen und Rückblenden die Tat(en) anhand der Geschichte von drei Menschen. Ayyub Zlatar stammt aus Bosnien, ist ein traumatisiertes Opfer des Bürgerkriegs nach dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren. Auch Markus Kellerhofer, der rechtsextreme Reichsbürger, ist ein Traumatisierter. Die Mutter starb bei seiner Geburt, der Vater ist Fernfahrer und nicht präsent. Aufgewachsen ist Kellerhofer deshalb bei seinen Großeltern, die so ziemlich an jede Verschwörung glauben, die es gibt: Sie halten die Kondensstreifen, die Flugzeuge beim Flug in großer Höhe erzeugen, für sogenannte Chemtrails, mit denen fremde Mächte sie vergiften wollen, und die Bundesrepublik Deutschland für eine Firma, nicht für einen Staat. Sein Großvater antwortet auf die Frage nach seinem Personalausweis: »Wir gehören nicht zu dem Personal der besetzten Bundesrepublik Deutschland«. Kellerhofers Großmutter verabreicht ihrem Enkel eine Tinktur aus Olivenöl mit Mohnblüten »gegen das Gift von den Amis und dem Jud«.

Seidl verbindet das Schicksal dieser beiden Männer mit einer dritten Figur: der aus dem kurdischen Teil der Türkei stammenden Roja Özen. Die junge Frau, ungefähr gleich alt wie Kellerhofer und Zlatar, kam als Kind nach Auffing, arbeitet hier als Ärztin. Zu ihrem Vater, einem PKK-Aktivisten, hat sie ein distanziertes Verhältnis, selbst ist sie religiös, ohne ihren Glauben ostentativ zu praktizieren. Als Zlatar das Blutbad auf der Polizeiwache anrichtet, ist sie zufällig anwesend. Sie überlebt, weil ein Beamter sie in Sicherheit bringt. Dies und die Tatsache, dass sie Muslimin ist, machen sie für einen Teil der Kleinstadtbewohner (und für Kellerhofer) zur Komplizin Zlatars. Roja Özen gerät zwischen die Fronten.

Leonhard F. Seidl ist ein Seismograph gesellschaftlicher Stimmungen. Sein Roman ist voller Anspielungen auf aktuelle Gemüts- und Aufregungszustände in der Politik und in den Medien. Mögen die Seelenwelten von Zlatar und Kellerhofer Ähnlichkeiten aufweisen, so setzt Seidl ihre Motive doch nicht gleich.

Genau genommen geht es in »Fronten« auch nicht nur um die Wieder- oder Neuerzählung eines Kriminalfalls von 1988, sondern um die Frage, was die Gesellschaft präventiv tun muss. Beiden Tätern - Zlatar wie Kellerhofer - wurde in ihrer Kindheit Schlimmes angetan. Wer über die Gefahr von Rechts oder generell über die Bedrohung durch Terrorismus redet, muss hier anfangen: bei der Kindheit der Täter, den Demütigungen, die sie erleiden mussten - und sich die Frage stellen, wie solcherart Menschenrechtsverletzungen vermieden werden können, damit aus Kindern nicht im Erwachsenenalter Menschen wie Markus Kellerhofer und Ayyub Zlatar werden.

Als der minderjährige Kriegsflüchtling Ayyub Zlatar, der mit erleben musste, wie Angehörige von Soldaten umgebracht wurden, unbegleitet am Hauptbahnhof in München ankommt, ist das erste, was er auf deutschen Boden sieht, ein Polizist mit Maschinengewehr und die erste Erfahrung, die er macht, die, dass er von Uniformierten eingesperrt und angeschrien wird.

Leonhard F. Seidl: Fronten. Roman. Nautilus, 159 S., br., 16 €.

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