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Der europäische Bildungstraum

Mit der Internationalisierung der Unis wird der Kampf um Studienplätze härter

  • Isidor Grim
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Europäische Union versucht sich neu zu erfinden, aber es gelingt nicht, es sind dieselben alten Phrasen. »Bildung ist zurück, wo sie hingehört - an die Spitze der politischen Agenda«, tönte EU-Bildungskommissar Tibor Navracsics zur Eröffnung des »Europäischen Bildungsgipfels« Ende Januar in Brüssel. Im gleichen Atemzug beschwor er Europas Zusammenhalt, gleiche Chancen für alle, »gemeinsame Werte und Zugehörigkeitsgefühl«.

Gerade er! War er es nicht, der als Justizminister Victor Orbans die umstrittenen ungarischen Gesellschafts- und Mediengesetze durchbrachte, die Mitsprache und Pressefreiheit einschränken? Ja, und so auch der erste Kandidat, der nur gegen den Widerstand des Europäischen Parlaments 2014 ins Amt gehievt wurde. Nur das Ressort für Bürgerrechte strich man ihm lieber.

Auch das Berliner EU-Büro Unter den Linden lud zu einer Konferenz, um den großen neuen Plan eines »Europäischen Bildungsraums« vorzustellen. Einige Vorschläge hatte der französische Präsident Emmanuel Macron im Herbst vergangenen Jahres in seine feurige Rede an der Sorbonne eingeflochten und danach auf das Treffen der EU-Regierungschefs in Göteborg mitgenommen. Der Europäische Rat stimmte dann im Dezember für ein Bündel von Empfehlungen, die jetzt als eine Art Aktionsprogramm der Kommission vor uns liegen.

Man möchte die Studenten- und Schülermobilität und die gegenseitige Anerkennung von Bildungsabschlüssen beschleunigen, einen elektronischen EU-Studierendenausweis einführen, ein Hochschulnetzwerk bauen und die Vielsprachigkeit fördern. Im Grunde dieselben, bald zwanzig Jahre alten Ziele der Lissabonstrategie und des Bologna-Prozesses, nur neu verpackt.

Viel davon wird durch das Erasmus-Programm finanziert, das in Umfragen als großer Erfolg der EU gewertet wird; diese eine Schokoladenseite möchte man natürlich hervorheben. Wie immer gibt es Nörgler wie Peter Ortmanns von der Kultusministerkonferenz, dem es nicht gefiele, wenn an die Stelle des freiwilligen Bologna-Prozesses ein »Sorbonne-Prozess« träte und die EU plötzlich gesetzlich verbindliche Richtwerte vorgeben würde.

Schon jetzt ist die »Internationalisierung« der Hochschulen, die Zahl internationaler Kooperationen und Studenten, problematisch. Sie sind ein Faktor in Rankings und Exzellenztabellen - und damit indirekt für die Finanzierung. Wie bunt der Rock ist, zählt, nicht wie gut er sitzt. »Der durchschnittliche Student in Holland kostet 8000 Euro im Jahr«, erzählt Psychologieprofessorin Annette de Groot von der Universität Amsterdam. »Gebühren bringen aber nur ein Viertel dieser Summe ein.« Die Kürzung der staatlichen Grundfinanzierung hat die Unis von den Studiengebühren abhängig gemacht, ohne dass sie eine Vollfinanzierung garantieren können.

Ein anderes Problem sieht man in Italien: Die Regierung in Rom hat mit der chinesischen die gegenseitige Anerkennung der Schulabschlüsse vereinbart, als Folge sind 24 Prozent aller Gaststudenten Chinesen (in manchen Einrichtungen bis zu 75 Prozent). Viele können aber gar kein Italienisch, um dem Unterricht wirklich zu folgen. Die Kunsthochschule Brera in Mailand hat ihrer etwa 800. »Das macht einen niveauvollen Unterricht praktisch unmöglich«, berichtet Massimo Mazzone, Professor für Bildhauerei.

Stephan Venske vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur bemerkte etwas anderes. Die EU-Kommission nutze Erasmus+ zu sehr für ihre politische Agenda, sagte er in Berlin. Erst sei es der Arbeitsmarkt gewesen, heute die Integration, »aber eigentlich ist es ein Mobilitätsprogramm«. Das stimmt, ist aber nur die halbe Wahrheit. Es geht in Brüssel nach wie vor ums Humankapital und nicht zuletzt das, was transnational operierende Unternehmen benötigen.

Man muss sich klarmachen, was das Erasmus-Programm für den Studentenaustausch bedeutet. Seit es immer mehr ausgeweitet wurde - auf Lehrkräfte, Berufsschüler, Doktoranden, ja sogar Jungunternehmer und auf Regionen wie Aserbaidschan, die Ukraine oder Tunesien - hat es ein Plus. Neun Millionen Personen hat es seit 1987 mobilisiert. Die europäische Steuerzahlerin lässt sich das 450 Millionen Euro jährlich kosten. Damit bis 2027 jede zweite junge Person in Ausbildung einmal ins Ausland kann, wie Emanuel Macron es fordert, müsste dieses Budget verzehnfacht werden.

Soweit wird es nicht kommen, dennoch ist der Bildungsplan im Kern ein Wirtschaftswachstumsprogramm. Man ist sich einig, die EU-Bildungs- und Forschungsausgaben im kommenden Siebenjahresplan zu erhöhen. Schon im laufenden Haushaltsjahr wurden die Ausgaben in allen Bereichen gekürzt, außer bei Erasmus+ und bei der Forschung. Man will die Gesamtstrategie stärker auf die »Wissensgesellschaft« ausrichten, auch wenn es das schwierige politische Manöver bedeutet, Subventionen von der Landwirtschaft und der Regionalförderung, den beiden größten Posten, zugunsten von Bildung, Forschung und Mobilität umzulenken.

Was wie eine Freudennachricht klingt, muss mit Vorsicht genossen werden. So edel das Bestreben klingt, das Erlernen einer zweiten Fremdsprache neben der ersten zu fördern - löst es die Probleme, die schon heute im muttersprachlichen Unterricht bestehen? Sind die schlechten IGLU-Ergebnisse Deutschlands, d.h. schlechte Lesefähigkeiten in der 4. Klasse, durch mehr Schüleraustausch zu bewältigen? Verschiebt man nicht, wie bei der heutigen Inflation von Bestnoten, die Probleme von einer Bildungsebene auf die nächste? Sind die erhöhten sozialen Kosten für mehr Mobilität, wie Wohnungsmangel, höhere Mieten, mehr Verkehr, nicht auch der Beachtung wert?

»Je mehr Internationalisierung, desto besser«, sagt Karen Maex, Rektorin der Universität Amsterdam, trotz der Proteste, die an ihrer Schule wüten. In Amsterdam werden, wie in ganz Holland, bereits über 60 Prozent aller Masterkurse und über 20 Prozent aller Bachelors auf Englisch angeboten, man wirbt international und hat auch nicht schlecht von den Gebührenflüchtlingen aus Großbritannien profitiert. Der Sprachenstreit, der darüber entbrannt ist, könnte, wie zuletzt in Italien, wo ein Gericht der Technischen Universität von Mailand verboten hat, alle Kurse in englischsprachige umzuwandeln, auch in unseren Breiten zu Klagen führen.

Weniger ist mehr. Schüleraustausch, Jugendarbeit, Digitalisierung der Klassen und Lehrsäle, internationale Forschungskooperation sind alles richtige Vorhaben des »Europäischen Bildungsraums«. Die Entwicklung besserer Bildungsstrukturen in den Ländern erfordert aber Zeit und Geld. In manchen Branchen, etwa Jura, ist die Mobilitätsrendite gering, in manchen Fächern schürt die übermäßige Konkurrenz um Studien- und Arbeitsplätze die Fremdenfeindlichkeit, in allen Bereichen mangelt es an qualifizierten Lehrkräften. Sie aus prekären und schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen zu holen, ist der zweite Schritt zur multikulturellen »Wissensgesellschaft«. Die Bildungspolitik aus der Logik statistischer Marktwerte zu befreien, der erste.

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