Kolumbien mutiert zum Touristenziel

Nach Bürgerkrieg und Entmachtung der Drogenkartelle entdecken immer mehr Urlauber die Schönheit des Landes

  • Knut Henkel, Medellín
  • Lesedauer: 3 Min.
»Paisa Road« steht auf dem japanischen Kleinbus, mit dem Nicolás Solórzana fast täglich in Medellín unterwegs ist. Der schlaksige Enddreißiger in der Trainingshose mit den drei Streifen ist Tourguide und fährt Urlauber auf den Spuren von Pablo Escobar durch die relevanten Stadtviertel Medellíns. »Mir geht es darum zu informieren, wie die Stadt unter dem Terror des Patron gelitten hat«, so der gelernte Grafiker über das Tour-Konzept, das er vor zehn Jahren entwickelt hat.

Der Pionier muss sich mittlerweile beachtlicher Konkurrenz erwehren. Die Reisebranche hat den weltweit wohl bekanntesten Kokainhändler nach der etwas pathetischen Verfilmung seines Lebens auf Netflix entdeckt und stellt ihn bisweilen als Robin Hood der Armen dar. Für den Medellíner Schriftsteller Héctor Abad ein Gräuel: »Das ist so ähnlich, wie Adolf Hitler wegen des Baus der Autobahnen zu loben«, schimpft er.

Allerdings ist Abad recht angetan von der steigenden Zahl von Touristen, die durch das Ausgehviertel Poblado und durch das Zentrum der mit 2,4 Millionen Einwohnern zweitgrößten Stadt Kolumbiens flanieren und selbst den Trip mit der Seilbahn in die Comuna 13 oft nicht scheuen. »Vor ein paar Jahren war das noch ein umkämpftes Viertel, jetzt ist es zumindest tagsüber relativ sicher«, so Abad.

Die zunehmende Sicherheit ist ein Grund, weshalb Touristen seit ein paar Jahren in Scharen in das südamerikanische Land strömen. 2010 kamen 2,6 Millionen Besucher vor allem in die Städte an der Karibikküste, allen voran Cartagena. 2016 waren es schon knapp 5,1 Millionen Touristen, und im vergangenen Jahr wurde noch einmal ein Plus von 28 Prozent verzeichnet. Die 6,5 Millionen Besucher sorgten dafür, dass der Tourismus nach dem Erdöl- und noch vor dem Kaffee-Export der zweitwichtigste Wirtschaftssektor des Landes geworden ist. Und Kolumbien hat weiteres Potenzial. Zum einen werden die vier Metropolen Bogotá, Medellín, Cali und Cartagena von Touristen angesteuert, zum anderen entdecken immer mehr Besucher die landschaftlich attraktiven Regionen wie die Kaffeezone oder begeben sich auf die Spuren der indigenen Kulturen in die Ciudad Perdida im Norden Kolumbiens, neben Machu Picchu eine der größten wiederentdeckten präkolumbischen Städte Südamerikas. Ornithologen wiederum haben die Naturschutzgebiete mit ihren vielen exotischen Vogelarten im Visier und geben viel Geld für Schnappschüsse aus. Das wissen auch die Verantwortlichen in Bogotá, die an neuen Routen feilen, um Radfahrer genauso anzusprechen wie Kaffeeliebhaber, Kletterer oder Wanderer. Obendrein werden Touren an der Karibikküste, auf den Spuren des Unabhängigkeitskrieges oder des Vallenato, des derzeit wichtigsten Musikstils, angeboten.

Auch in die Schutzgebiete werden Touren organisiert. Zum Beispiel kann man von Bogotá aus den nur eine Autostunde entfernt liegenden Páramo Sumapaz, einen der wichtigsten Wasserspeicher des Landes, besuchen. Er liegt oberhalb der 2500-Meter-Marke inmitten von Hochmooren, die immense Wassermengen aufnehmen und speichern können. Hier entspringen unzählige Flüsse des Landes. 36 dieser meist mit beeindruckender Vegetation umgebenen Wasserspeicher gibt es landesweit. Die Reise zum Páramo Sumapaz war bis zum Friedensschluss mit der Guerillabewegung FARC riskant. Seit November 2016 fahren nun jeden Tag Busse mit Touristen zum Páramo und zurück. Bis zu 1500 Personen sind es täglich, so berichten lokale Tageszeitungen. Sie weisen jedoch auch auf den schädlichen Einfluss der Touristen hin, die Müll hinterlassen, ohne Lizenz Wildtiere jagen und jeglichen Respekt für die Umwelt vermissen lassen.

Ein Problem, mit dem sich Tourismusministerin María Claudia Lacouture bisher genauso wenig beschäftigt hat wie mit dem Sextourismus, der nicht nur in den Urlaubszielen an der Karibikküste, sondern auch in Medellín verbreitet ist. Zwar gibt es eine Strategie gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, aber in der Realität drückt die Polizei oft beide Augen zu, kritisiert Héctor Abad. Dies ist die Kehrseite des Touristenbooms, der 2017 schätzungsweise acht Milliarden US-Dollar in die Staatskassen spülte und rund 1,8 Millionen Menschen Arbeit gibt - Tendenz weiter steigend.

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