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»Wir sind ein Auge für alle«

Das Luftaufklärungsflugzeug Moonbird sucht nach Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 7 Min.

500 Meter unter der Moonbird liegt das Meer. Die Wasseroberfläche ist gleichförmig zerklüftet und immer in Bewegung. Die wenigen Schaumkronen zerstäuben nach wenigen Sekunden langsam in alle Richtungen.

Fabio Zgraggen und Tamino Böhm scannen mit bloßem Auge das Meer auf der Suche nach Schiffbrüchigen. Jedes Crewmitglied des Aufklärungsflugzeugs hat sein eigenes Suchfeld. Pilot Zgraggen hat ausgehend vom Ziffernblatt einer Uhr den Bereich zwischen neun und zwölf Uhr im Blick. Böhm, Einsatzleiter der Mission, ist für das Feld zwischen zwölf und drei Uhr verantwortlich.

Die Moonbird ist ein Projekt der Seenotrettungsorganisation Sea-Watch aus Deutschland und der Humanitarian Pilots Initiative aus der Schweiz. Seit drei Jahren fliegen Ehrenamtliche der beiden Organisationen zusammen Aufklärungsflüge über dem Mittelmeer vor der libyschen Küste. Mit einer kleinen Propellermaschine suchen sie aus der Luft das Meer nach Flüchtlingsbooten ab. Sie können in weniger Zeit eine größere Fläche absuchen als per Schiff und haben einen besseren Überblick. Haben sie ein Boot gefunden, geben sie die Koordinaten an die Seenotrettungsleitstelle in Rom durch und senden einen Funknotruf an naheliegende Schiffe. »Wir sind ein Auge für alle«, sagt Böhm. Anfangs flogen sie noch mit gemieteten Maschinen, seit April 2017 haben sie ihr eigenes kleines Flugzeug.

Küste von Malta
Küste von Malta

Die Moonbird fliegt heute ihre zweite Mission des Jahres. Über den Winter wurde sie in der Schweiz gewartet, neue Piloten wurden trainiert, die Crew wartete auf besseres Wetter: Da sie die Missionen auf Sicht fliegen, müssen sie auch etwas sehen können. Ende Februar brachte Zgraggen, Gründer der Humanitarian Pilots Initiative, die Moonbird nach Malta. Bei der ersten Mission am 3. März spielte das Wetter noch nicht richtig mit. Der Wind hatte Wüstensand aus der Sahara über das Mittelmeer getrieben, die Sicht vor der Küste Libyens war so schlecht, dass die Crewmitglieder kaum etwas sehen konnten. Ob sie zu früh im Jahr gestartet sind? »Es ist nie zu früh«, sagt Zgraggen. »Es ist immer zu spät«, sagt Böhm und ergänzt: »Eigentlich müssten wir eher im Januar fliegen als im Juni - weil im Januar auch weniger Rettungsschiffe draußen sind.«

»Hotel Bravo Kilo Mike Mike«

Vier Tage nach der ersten Mission startet die Moonbird erneut Richtung Libyen. Bei Aufbruch am frühen Morgen ist der Himmel klar, von Wind ist wenig zu spüren. Auf dem Flugplatz telefoniert Tamino Böhm mit der Rettungsleitstelle in Rom: Bisher hat sie keinen Notruf eines Bootes in Seenot erhalten.

Um 8.15 Uhr lokaler Zeit - Malta liegt in der gleichen Zeitzone wie Deutschland - geht es in die Luft. Zgraggen hat einen Flugplan in den Computer eingegeben, Böhm wiederholt noch einmal die Sicherheitshinweise. »In der Luft und auf dem Wasser geht man immer vom Worst Case aus«, sagt er. Deshalb tragen alle Crewmitglieder knallorangene Overalls, mit denen sie, sollten sie abstürzen, besser gesehen werden. Darüber haben sie rote Rettungswesten geschnallt. In den Hosentaschen stecken ein wasserdicht verpackter GPS-Sender, ein Messer und eine Signalrakete.

»Hotel Bravo Kilo Mike Mike«, sagt Zgraggen in das Mikrofon seines Headsets. Jeden Funkspruch beginnt er mit der Kennung des Flugzeugs: HB-KMM. Zgraggen bittet um Starterlaubnis. Dann geht es in die Luft. Die Küste Maltas liegt nach nur wenigen Minuten hinter der Moonbird. Etwa eine Stunde lang hält Zgraggen gen Süden, auf Libyen zu. Dann sagt Böhm: »In fünf Minuten sind wir da.«

Fabio Zgraggen (links) und Tamino Böhm im Cockpit
Fabio Zgraggen (links) und Tamino Böhm im Cockpit

»Da«, das ist das Suchgebiet, etwa 20 Meilen vor der libyschen Küste. »Die Boote sind ein Seenotrettungsfall, sobald sie das Festland verlassen«, sagt Böhm. Und erklärt: Sie sind überladen, untermotorisiert, haben nicht ausreichend Sprit dabei, um das italienische Festland oder eine der europäischen Mittelmeerinseln zu erreichen; außerdem haben sie nur Passagiere, keine Crewmitglieder an Bord: Steuern müssen die Flüchtenden die Boote selbst, ohne jemals zuvor in einem gesessen zu haben.

Die Moonbird fliegt heute das Meer parallel zu libyschen Küste gen Westen ab. An der Grenze zu Tunesien kehrt sie um und fliegt im Abstand von zehn Meilen zur vorigen Route wieder zurück.

Die Sonne scheint gleißend hell auf die Wasseroberfläche. Dunkle Flecken wechseln sich mit grellen Punkten ab, dazwischen weiße Gischt. Wir suchen zwar nach Booten, aber die sind nicht immer leicht zu erkennen. »Man muss die Meeresoberfläche analysieren«, empfiehlt Böhm. »Die Kielwellen führen uns zu den Booten.« Denn: Boote hinterlassen rechts und links Wellen, die oft besser zu sehen sind als die Fahrzeuge selbst. Noch ein Hinweis: »Hinter dem Boot ist die Farbe des Wassers heller.«

Doch alles sieht gleich aus. Für ungeübte Augen ist nicht einmal erkennbar, ob die See ruhig ist oder wild, ob die Wellen hoch sind oder niedrig. Schon nach wenigen Minuten ermüden die Augen, man muss sich zwingen, sie offen zu halten, nicht mit den Blicken abzuschweifen und nicht auf den störenden Druck durch die Rettungsweste zu achten.

Langweilig und anstrengend

Nach etwa einer Stunde ist Fabio Zgraggen der erste, der ein Boot sieht. »Target auf 11 Uhr«, sagt er, und fügt gleich hinzu: »Ich glaube, es sind Fischer.« Es kommt näher: ein mittelgroßes Schiff aus Holz, kein Vergleich mit den überfüllten Flüchtlingsbooten. Noch etwa zwei Stunden fliegt die Moonbird das Meer ab. Dann geht es zurück. Rund 1200 Quadratmeilen (etwa 3000 Quadratkilometer) haben Böhm und Zgraggen abgesucht. Nicht einmal zehn Schiffe haben sie in der Zeit gesehen, darunter kein einziges Gummiboot. Zurück im Crewhaus antworten sie auf die Frage, wie der Flug war, unisono: »Langweilig und anstrengend.«

»Natürlich freue ich mich, wenn wir nichts sehen. Weil das heißt, dass sich niemand mit der Flucht über das Meer in Gefahr begeben muss«, sagt Böhm. »Auf der anderen Seite heißt das auch, dass die Leute heute nicht aus Libyen weggekommen sind. Ich habe immer zweischneidige Gefühle.«

Zgraggen sagt: »Heute war es gerade gut, dass keine Boote unterwegs waren.« Böhm ergänzt: »Heute wäre die Frage gewesen: Wer soll sie retten?« Tatsächlich war an dem Tag kein einziges Schiff einer Seenotrettungsorganisation auf dem Meer. Die Sea-Watch 3 ist in der Werft in Spanien, die Lifeline von der Organisation Mission Lifeline in der Werft auf Sizilien, die Open Arms der spanischen Organisation Proactiva lag in Malta zum Crewwechsel. Die Aquarius von SOS Mediterranee war noch nicht zurück aus Italien, wo sie gerettete Flüchtende abgeliefert hatte. Um nur ein paar zu nennen. Hätte die Crew der Moonbird heute ein Boot gesichtet, wäre es unsicher gewesen, ob einer der Fischkutter die Passagiere aufgenommen hätte oder ob die libysche Küstenwache die Flüchtenden abgefangen und zurück nach Libyen gebracht hätte.

Der Umgang mit Bootsflüchtlingen hat sich in den vergangenen Jahren mehrmals geändert. 2013 organisierte Italien die Operation Mare Nostrum, um Schiffbrüchige aus dem Meer zu retten. 2014 wurde die Mission eingestellt. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex richtete die Operation Triton ein, die die Sicherung der Grenzen, nicht die Rettung von Flüchtenden zum Ziel hatte. Seit Herbst 2015 organisiert die Europäische Union zudem die Operation Sophia, deren Aufgabe es ist, Schleuser zu bekämpfen. Seit Ende 2016 soll die Operation Sophia auch die libysche Küstenwache ausbilden und damit stärken und ausbauen. Im Februar 2018 verkündete Frontex, Sophia durch Themis zu ersetzen.

Suche und Rettung aus der Luft
Suche und Rettung aus der Luft

Im August 2017 rief Libyen zudem eigenmächtig eine Such- und Rettungsregion bis 74 Meilen vor der libyschen Küste aus und erklärte sich innerhalb dieser Zone für zuständig für die Seenotrettung. Die EU nimmt das Angebot dankbar an und überlässt die Flüchtenden wenn möglich den libyschen Schiffen, kritisieren nichtstaatliche Rettungsorganisationen, darunter auch Sea-Watch. Seitdem führt die libysche Küstenwache immer mehr Menschen zurück.

Überfahrt wird gefährlicher

»Das führt nicht nur dazu, dass die Menschen längere Zeit in Libyen selbst Lebensgefahren ausgesetzt sind, sondern auch dazu, dass sie ihr Leben mehrere Male auf dem Wasser aufs Spiel setzen müssen«, sagt Böhm. Zudem würden Boote wesentlich häufiger bei schlechtem Wetter fahren, um dem Radar der libyschen Küstenwache zu entgehen: Der kann hohe Wellen oft nicht von einem kleinen Gummiboot unterscheiden - so bleibt das Boot zwar möglicherweise unentdeckt. »Die Überfahrt wird aber gefährlicher.«

Tatsächlich habe zwar die absolute Zahl an Mittelmeertoten 2017 abgenommen. Relativ gesehen - im Verhältnis zur Zahl derer, die überhaupt gestartet sind - seien die Zahlen aber gestiegen. »Die beste Seenotrettung kann nicht verhindern, dass es Tote gibt«, meint Tamino.

Auftanken nach dem Flug
Auftanken nach dem Flug

Rund 170 000 Menschen machten laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2017 die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer. 3000 Menschen starben dabei. »Ohne den Einsatz des Sea-Watch Aufklärungsflugzeugs Moonbird wären es wohl bis zu 1000 Mittelmeertote mehr geworden«, schreibt Sea-Watch auf seiner Homepage. 119 Boote sichtete die Moonbird demnach im vergangenen Jahr.

Am Samstag flog die Moonbird ihre dritte Mission. Die Crewmitglieder sichteten ein Schlauchboot und halfen bei der Rettung von 106 Menschen.

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