nd-aktuell.de / 24.03.2018 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 18

»Fair Trade liegt in unserer DNA«

Die belgische Stadt Gent will fairste Stadt der EU werden

Samuela Nickel und Maria Jordan

Ein Lkw rumpelt durch die stillen Straßen der Genter Innenstadt. Die Sonne scheint zwar, aber ein eisiger Wind weht zwischen den Häusern. Über die gesamte Seitenplane des vorbeifahrenden Lkw zieht sich ein grüner Werbeslogan, Kaffeebohnen sind darin zu sehen: »Oxfam Fairtrade« steht darauf. Tagtäglich liefern die Wagen der Hilfsorganisation Produkte aus, die mit dem Fairtrade-Siegel zertifiziert sind. Gent gilt als Vorreiter unter den europäischen Städten, die sich durch nachhaltige Projekte und ethischen Handel auszeichnen.

In vielen Cafés und Kneipen in der Stadt sind gerecht gehandelter Kaffee, Saft und Limonade auch auf der Getränkekarte zu finden. Sogar die Kopierläden hier sind »grün« und drucken umweltbewusst mit recyceltem Papier. Nachhaltigkeit, Umweltschutz, alternative Ökonomie - das sind Dinge, für die es in der Stadt ein breites Bewusstsein zu geben scheint. Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man sich die Geschäfte und Lokale der Innenstadt anschaut.

In diesem Jahr bewirbt sich Gent für den Titel Fair-Trade-City, eine Auszeichnung, die von der EU-Kommission erstmals vergeben wird. Mit ihr werden europäische Städte prämiert, die sich in ihren internationalen Handelsbeziehungen mit mehr sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Nachhaltigkeit hervortun. Bis zum 13. April können sich alle Städte in der EU mit mehr als 20 000 Einwohner*Innen bewerben. Die besten Chancen haben diejenigen, die Kleinerzeuger*innen unterstützen und Bürger*innen, Politiker*innen und Unternehmer*innen für faire, ethische und nachhaltige Handelsstrukturen aktiv sensibilisieren. Mit einem eigenen »Fair Food Fest« und dem »Fair Fashion Fest« hat Gent gute Aussichten auf den Titel der »Fair-Trade-Stadt«.

Tourist*innen und Interessierte können bei einem sogenannten Fair Food Walk durch die Stadt stromern und Gents ethische Seite kennenlernen. Erste Station des Spaziergangs ist das Café Vooruit (deutsch: Café Voraus). Die große Halle trägt Farn an den Außenwänden und liegt nahe der Universität. Vor allem Studierende, die hier ihre Zeit zwischen den Vorlesungen verbringen, tummeln sich an diesem Nachmittag an den weißen Tischen. Auch hier gibt es Kaffee aus Ostkongo, von Oxfam geliefert, selbst gebrautes Biobier und »Anti-Mafia-Pasta« von einer sizilianischen Kooperative. Ein Großteil der 250 000 Einwohner*innen Gents sind junge Akademiker*innen oder Studierende. Mit 70 000 Student*innen ist Gent, das zwischen Brüssel und Brügge liegt, die größte Student*innenstadt in Flandern. Auch die Genter Uni wurde schon als Fair-Trade-Universität ausgezeichnet.

Oxfam ist in dieser Stadt sehr prominent - auf der Straße, den Speisekarten oder auch politisch. Die Stadt kooperiert bei verschiedenen Projekten mit der Hilfsorganisation. Seit 2004 ist beispielsweise der Kaffee und die Limonade im Genter Rathaus komplett gerecht gehandelt. Im zentral gelegenen Oxfam-Weltladen, einer weiteren Station des »Fair Food Walks«, liegen Holzschüsseln und Textilien, aber auch Kaffee oder Tee von afrikanischen und südamerikanischen Hersteller*innen aus. Die Preise sind niedriger als in anderen Bioläden, da weniger Marge einbehalten wird und die Mitarbeiter*innen in den Läden größtenteils auf ehrenamtlicher Basis arbeiten. »Oxfam hat hier in Gent ungefähr 100 Klienten, unter anderem auch die Stadtverwaltung«, sagt Katrien van Wymersch, Sales Coordinator bei Oxfam. Gent ist traditionell eine eher linke Stadt, sagt van Wymersch. Die Stadt war wichtiger Ort der flämischen Arbeiter*innenbewegung. »Es gibt hier ein Bewusstsein für fairen Handel - als Studentenstadt unter sozialdemokratischen Verwaltung.«

Oxfam, englisch kurz für Oxforder Komitee zur Linderung von Hungersnot, gründete 1964 seinen Zweig in Belgien. Die Arbeit lag nach Angaben der Organisation zu Beginn vor allem in der Dekolonialisierung und Unterstützung der ehemaligen Kolonialstaaten. Die einstige Tuchmacherstadt Gent war lange Handelsknotenpunkt für Textilien. Uralte Zunfthäuser und Handelskontore sind in der Stadt mit dem alten mittelalterlichen Hafen, den vielen Kanälen, Brücken und engen Straßen mit Kopfsteinpflaster noch immer zu sehen.

Von Oxfam aus werden Kaffee, Tee, Limonade und Saft von den Fahrradkurier*innen von CargoVelo in der Stadt verteilt. Zum Beispiel in das Café »Simon Says«, das Biokäse und Saft von Oxfam im Menü hat. Zum Kaffee gibt es hier ein Stück dunkle Schokolade - natürlich ebenfalls von Oxfam. Eli Callewier, die als Freiwillige in Schichten von jeweils drei Stunden im Weltladen der Hilfsorganisation arbeitet, bildet und sensibilisiert neben der Verkaufsarbeit auch für das Thema. »Ich glaube an die Aufgabe, dem Globalen Süden durch fairen Handel helfen zu können«, sagt Callewier über ihre Motivation. Dabei sollte es nicht nur um kurze Projekte gehen, sondern auch um langfristige Handelsbeziehungen. »Wie sollten uns nicht nur um uns selbst kümmern«, findet sie. Oxfam unterstützt Gent auch bei der EU-Ausschreibung.

Der neue Genter Hafen ist heute der drittgrößte Seehafen Belgiens und versorgt rund 500 Millionen Menschen im Umkreis von 500 Kilometern mit über 60 Millionen Tonnen Gütern im Jahr. Heute sei Gent die erste Fair-Trade-Stadt Belgiens und Pionier, vor allem was die Textilbranche angeht, sagt die stellvertretende Bürgermeisterin Tine Heyse von den Grünen. Gent war im Mittelalter eine Hochburg der Textilindustrie - dies jedoch mit allen Nachteilen, die es mit sich bringt, wie Kinderarbeit und unfaire Handelbedingungen, die sich teilweise bis heute auswirken.

Handelstadt ist Gent immer noch, besonders für Textilien. Doch dieser Handel soll künftig fairer gestaltet werden. Ziel sei, »dass Leute in Gent so viel fair gehandelte Textilien wie möglich an so vielen Orten wie möglich kaufen können«, sagt Heyse. Zusammen mit den Geschäften und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sollen Alternativen zu unfairer Kleidung geboten werden. Die Anzüge der Angestellten der Stadt sind bereits aus nachhaltig und gerecht produzierter Biobaumwolle maßgeschneidert - in das Futter der Kleidung ist eine Auflistung der Menschenrechte eingenäht. »Das gibt einem ein gutes Gefühl«, sagt die Portierin des Rathauses dazu. Als nächstes Projekt ist die Arbeitskleidung der staatlichen Angestellten, beispielsweise die der Gärtner*innen für öffentliche Anlagen, an der Reihe. Sie soll künftig auch aus ethisch hergestellten Textilien gefertigt werden. Dabei wollen Heyse und ihr Team ihre Fortschritte dokumentieren, damit andere Städte dem Beispiel bald folgen können. Die Teilnahme am EU-Wettbewerb für fairen und ethischen Handel soll laut Heyse die Motivation für Projekte wie diese steigern: »Wenn man die Auszeichnung als faire EU-Stadt bekommt, muss man das auch jeden Tag beweisen.«

Nicht nur reden, sondern es auch zeigen, sei ihre Devise. Das Wichtigste ist Transparenz, auch bei Problemen. »Wir haben nicht alle Antworten, aber wir haben wenigstens keine Angst davor, Experimente zu wagen und daraus zu lernen«, sagt Heyse. »Fair Trade liegt in unserer DNA.«

In Gent wird der ethische Handel auch mit ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit verknüpft. Ein Beispiel ist der kostenlose »Wandelbus«, der ganztägig durch die Innenstadt fährt und in den jeder einfach einsteigen kann. Viele der Straßen in der Innenstadt sind für Autos gesperrt und überall flitzen Fahrräder herum. Am »Veggie-Donnerstag« gibt es in allen öffentlichen Einrichtungen kein Fleisch, sondern nur vegetarische Gerichte. Gemeinschaftsgärten und lokaler Obst- und Gemüseanbau werden von der Stadt unterstützt. Die Produkte, die nicht regional produziert werden können, sollen aus ökologisch und sozial nachhaltigem Handel kommen.

In dem Restaurant »Le Petit Botanique« im Stadtzentrum, einer letzten Punkte des Fair Food Walks, gibt es nur saisonales Gemüse aus biologischem Anbau, im Winter greifen die Betreiber*innen auf Kohl, Kürbis, Spinat und Artischocken zurück. Arbeit finden dort Menschen, die Probleme haben, auf dem Arbeitsmarkt eine reguläre Stelle zu bekommen. Der Kaffee kommt natürlich von Oxfam.