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Die Wiederkehr des »Untermenschen«

Wie deutsche Medien über Russland im Syrienkrieg schreiben - und letztlich nur von Deutschland berichten

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 6 Min.

Was wäre, wenn jemand in einer deutschen Zeitung zur Kritik des letzten oder nächsten israelischen Militärschlags in Gaza oder im Libanon das Wort »Holocaust« verwendet hätte oder verwendet? Für den unwahrscheinlichen Fall, dass diese Überschrift die Endredaktion überstünde, wäre klar: Der- oder diejenige wäre seinen Job los und eine Unperson im Journalismus - und das natürlich ganz zu Recht. Denn gleichgültig, auf welches Eskalationsniveau sich der Konflikt um Israel, seine Nachbarn und die besetzten Gebiete haben mag, wäre dieses Wort nicht nur in jeder Beziehung falsch, sondern auch infam.

Was aber passiert, wenn jemand zur Kritik der russischen Militärintervention in Syrien den Ausdruck »Vernichtungskrieg« benutzt? Die rhetorische Frage zeigt es an: Nichts. Im Gegenteil ist dieser Ausdruck offenbar eine Art Standardvokabel. »Bild« etwa benutzt ihn häufig in der Art einer Spitzmarke, also als Rubrik, die durch die eigentliche Schlagzeile noch spezifiziert wird: »Vernichtungskrieg in Ost-Ghouta: Assad und Putin töten Dutzende mit Brandbomben«. Und der »FAZ« diente dieser Tage die Rede vom »Vernichtungskrieg im Osten von Damaskus« nicht einmal als kommentierende Zuspitzung in einer Überschrift, sondern als vermeintliche Tatsachenbeschreibung in einem Nachrichtentext. Wer will, kann Putins syrischen »Vernichtungskrieg« in wenigen Minuten dutzendfach ergoogeln.

Zugegeben: Diese Analogie hinkt etwas. Erstens wäre eine Bezeichnung der in der Regel ja eher punktuellen Luftangriffe Israels im Palästinenserkonflikt als »Holocaust« der Sache wohl noch unangemessener als es die Rede von Putins »Vernichtungskrieg« ist: Der syrische Krieg bewegt sich mit seinen Belagerungsschlachten tatsächlich auf einem sehr hohen Eskalationsniveau. Und zweitens ist »Vernichtungskrieg« als Begriff der deutschen Erinnerungskultur bei weitem nicht so spezifisch ausgeflaggt wie eben »Holocaust«.

Dennoch sollte Journalisten wenn nicht der »Bild«, so doch der »FAZ« im Groben bekannt sein, was »Vernichtungskrieg« vor allem bezeichnet: Den Nazikrieg gegen die UdSSR, der im Kern rassistisch war und darauf zielte, die Bevölkerung zu dezimieren und zu helotisieren.

Diese Vernichtungsintention ist in der Historik weitgehend unbestritten. Auch war die diesen Krieg begründende Ideologie vom »Untermenschen« aus dem Osten für den Nazismus kaum weniger konstitutiv als der Antisemitismus. Deshalb wurde der Krieg im Osten ganz anders geführt als im Westen. So starben in der UdSSR weitaus mehr Zivilpersonen als Militärangehörige - vorsichtig geschätzt 14 gegenüber 13 Millionen, davon drei in Gefangenschaft. In Deutschland kam bei sechs Millionen Toten auf fünf Soldaten ein Zivilist.

Dass deutschen Schreibern »Putins Vernichtungskrieg« nicht im Halse stecken bleibt, liegt daran, dass der Krieg im Osten »unbewältigt« ist: Weil sein verbrecherischer Charakter, weil seine rassistische Motivation für die heute dominierende westdeutsche Erinnerungskultur so bequem hinter der Front der Blockkonfrontation verschwand und weil dieser Krieg mit fraglos harten Konsequenzen verloren wurde, halten sich viele Deutsche sogar für Opfer »der Russen«. Es hat eben nie eine Fernsehspielfilmreihe mit Namen »Vernichtungskrieg« gegeben, die denselben analog zur Serie »Holocaust« erinnerlich gemacht hätte.

Doch selbst wenn den jetzigen Vernichtungskriegern in der deutschen Presse dieses kollektive und institutionelle Versagen der vor Selbstlob sonst stinkenden bundesdeutschen Geschichtspolitik nicht individuell angelastet werden kann, ist ihre Rhetorik abgrundtief geschichtsrevisionistisch. Aus der sich zusehends verselbstverständlichenden Rhetorik vom »Vernichtungskrieg« spricht etwas anderes als eine humanitäre Kritik an der russisch-syrischen Kriegsführung gegen mehr oder minder radikale Dschihadmilizen, nämlich genau dasjenige Motiv von Schuldinversion, das der israelische Psychologe Zvi Rex einst so böse wie treffend bezüglich des Holocausts festgestellt hat: Wie man den Reflex, nach dem »die Deutschen den Juden Auschwitz nicht verzeihen« können, als »sekundären Antisemitismus« beschreiben kann, so bricht sich in der empörenden Rede vom russischen »Vernichtungskrieg« eine abgeleitete Version jener Ideologie vom »Untermenschen« Bahn, in deren Namen Millionen Menschen umgebracht wurden. Besonders besorgniserregend ist dabei, dass diese Rhetorik gerade nicht aus der »Schmuddelecke« kommt, sondern in der demokratischen »Mitte« oder der sogenannten Zivilgesellschaft kultiviert wird, während deutsche Panzer wieder in Schussweite der russischen Grenze stehen.

Wer sachlich daran zweifeln sollte, dass die Rede vom »Vernichtungskrieg« mehr von deutscher Befindlichkeit berichtet als vom syrischen Kriegsgeschehen, betrachte die Anlässe, um die es geht. Die Belagerungen von Aleppo im Jahr 2016 wie jetzt der östlichen Vorstädte von Damaskus endeten mit Verhandlungen, als deren Resultat die unterlegenen Milizen nicht nur Sympathisanten und Angehörige, sondern auch Kämpfer - sogar bewaffnete - an Orte verlegten, an denen sie ihren Krieg weiterführen konnten. Man stellte ihnen Busse zur Verfügung.

Wie dagegen Großstädte in einem wirklichen »Vernichtungskrieg« belagert werden, sollten Deutsche besser wissen - und zwar gerade dieser Tage. Vor fast genau 75 Jahren scheiterte mit der »Operation Polarstern« ein groß angelegter Versuch der Roten Armee, das seit 1941 belagerte Leningrad zu befreien. Dort starben zwischen 1941 und 1944 rund eine Million Menschen, die allermeisten Zivilpersonen. Wie hätten die deutschen Heerführer den Vorschlag aufgenommen, doch bitte die Verteidiger samt Handfeuerwaffen mit Zügen an die Front zu geleiten, auf dass sie weiter gegen die Wehrmacht kämpften?

Diese Kampfrhetorik ist propagandistisch, aber keine Propaganda. Die Medien »lügen« nicht in dem Sinn, dass man am Redaktionstisch ausknobelte, welchen russischen Bären man dem Publikum heute aufbände. Die offenkundige Schlagseite in der Faktenbeschreibung sowie in der moralischen Bewertung ist habituell, sie ist ansozialisiert in sich tausendfach wiederholenden Standardsituationen des Journalistwerdens: in der Art vielleicht des Augenverdrehens bei bestimmten Nachrichten, in dem Ton, in dem man einander aus Erklärungen des in eben diesen Routinen als Gegner erkannten Anderen vorliest. Der Soziologe Pierre Bourdieu würde hierbei von »Doxa« sprechen. Weil diese »natürliche Meinung« fast eher körperlich als kognitiv operiert, bewegt sie sich jenseits des Reflexionsvermögens. Die Akteure des Medienmainstreams fühlen sich ganz ehrlich verunglimpft, wenn man sie kritisiert - und wähnen sich als aufklärend und kritisch, wenn sie die quasioffizielle gegen eine abweichende Haltung verteidigen.

Etwas anders verhält es sich eine Ebene höher. So kritisierte die »Unabhängige Untersuchungskommission« der UN für den Syrienkrieg nach der Schlacht um Aleppo nicht nur die - fraglos zeitweise infernalische - Beschießung mit ihren zivilen Opfern in scharfer Form. Die Kommission, in der damals die US-Diplomatin Karen Koning AbuZayd den Ton mit angab, nannte auch den Abzug der überwiegend ortsfremden Milizen eine »Zwangsumsiedlung«. Darin konnte man nun eine Absicht wider besseres Wissen erkennen: Die USA hatten hinnehmen müssen, dass der Konflikt nicht in ihrem Sinne enden würde - und vielleicht eingesehen, dass ein Sieg des chaotischen Milizenwesens gar nicht mehr wünschenswert war. Da lag es nahe, wenigstens den moralischen Preis hochzutreiben.

Dieses geradezu absurde Argument verletzte allerdings alles, was die UN ausmacht und was ihren Einfluss begründet: Den Glauben daran, dass sie universale Werte vertrete und zumindest im Ansatz unparteiisch sei. Vielleicht ist es dann doch auf einen Prozess vernünftiger Abwägung zurückzuführen, dass der nun wiederum ausgehandelte Abzug der Dschihadisten aus Ost-Ghouta zumindest bisher nicht als ethnische Säuberung diffamiert wurde. Doch wird man das wohl abwarten müssen.

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