nd-aktuell.de / 31.03.2018 / Kultur / Seite 22

Kann ich dir je verzeihen?

Menschen sind in ihrer Fähigkeit zu vergeben nur bedingt begabt

Wolfgang Schmidbauer

Walter und Irene sind seit zehn Jahren verheiratet und haben zwei Kinder, die Irene versorgt. Walter ist Banker und arbeitet sehr viel. Irene kommt mit der Frage, ob sie Walter jemals verzeihen könne. Er hat sie angeschrien, als sie sich weigerte, nach einem gemütlichen Abendessen mit ihm zu schlafen. Sie habe ihn provoziert, habe behauptet, er rieche nach Alkohol, das ekle sie. Walter tobte, er wollte sich scheiden lassen, er halte das nicht aus, wolle mit vierzig Jahren nicht leben wie ein Mönch. Am nächsten Morgen hat sich Walter entschuldigt. Irene konnte die Nacht nicht schlafen und malte sich aus, wie sie ihre Kinder durchbringen könne, wenn Walter sich scheiden ließe. Das Haus, in dem sie wohnen, gehört seinen Eltern, sie steht auf der Straße, verliert die Kinder.

Galina und Wladimir sind seit zwanzig Jahren verheiratet. Beide stellen die Frage nach dem Verzeihen und beginnen auch schon darüber zu streiten, wer mehr Recht dazu hat, die Frage zu stellen, wem und ob Unverzeihliches geschehen ist. Galina hat herausgefunden, dass Wladimir eine Geliebte hat, was Wladimir abstreitet: Sie sei nur eine gute Freundin, die er unterstützt, weil sie sonst niemanden hat. Galina kann ihm den Seitensprung nicht verzeihen; sie findet, die von ihr entdeckten Kurzbotschaften auf Wladimirs Handy sind eindeutig, außerdem hat er ihr nie von dieser Frau erzählt, das hätte er doch getan, wenn es nur eine gute Freundin wäre. Wladimir kann Galina ihre misstrauische Haltung nicht verzeihen; er wisse nicht, ob er in die frühere Harmonie zurückfinden könne, wenn Galina ihm nicht glaubhaft machen könne, dass sie künftig seine Privatsphäre respektiere. Nicht er habe durch Untreue, sondern sie durch ihr Misstrauen Unverzeihliches angerichtet.

Wer solchen Paaren helfen will, ihre Konflikte zu klären und den Stau des »Unverzeihlichen« in ihrer Beziehung zu lösen, wird aufmerksam für die Radikalisierungen und Einseitigkeiten, welche unsere öffentlichen Debatten über Liebesbeziehungen prägen. Diese bieten kaum Hilfe, totalitäre Widersprüche zu mäßigen, mit denen sich die Partner quälen.

Die Medienwelt ist voller perfekter Beziehungen und richtiger Partner, die sich dank eines kostenpflichtigen Internetkupplers pausenlos verlieben. Wie wir mit der richtigen Mischung von Humor, Geduld und Respekt vor den Marotten des Partners die Liebesverluste in langen Beziehungen möglichst gering halten, davon ist nur selten Bild oder Rede.

Kindern wird die verlogene Gewissheit beigebracht, »wer einmal lügt, dem glaubt man nicht!« Und so geht es weiter. In jeder Gerichtsserie, wie sie massenhaft für das nach Rechthaberei gierende Publikum produziert werden, ist Glaubwürdigkeit eine absolute Kategorie. Dem Zeugen wird nachgewiesen, dass er eine Aussage geschönt, ein beschämendes Detail weggelassen hat. Sofort ist er unglaubwürdig.

Eltern bedrücken ihre Kinder mit Vorhaltungen, schlimmer als ihr konkretes Vergehen - die unterschlagene Schulnote, die gefakte Unterschrift, der aus Mamas Geldbeutel geklaute Schein - sei die Tatsache, dass sie über diesen Fehler gelogen hätten. Während kaum ein Mensch an einer roten Fußgängerampel wartet, wenn niemand auf der Straße ist, behaupten in einer Politikerbefragung Abgeordnete aller Parteien in großer Mehrheit, sie würden sich ganz selbstverständlich vorschriftsgemäß verhalten, auf dass niemanden die Idee beschleiche, sie wüssten nicht, wie man Vorbild ist und bleibt.

Oft ist Gott gnädiger als ein Liebespartner: Wenn der Sünder beichtet, bereut und büßt, findet er in den Stand der Gnade zurück. Freilich tut sich Gott auch leichter mit dem Verzeihen. Da er alles weiß, wird er nie gekränkt und voller Unsicherheit eine Seite des Menschen erleben, von der er bisher nichts wissen wollte. Der Mensch in einer Liebesbeziehung aber braucht Illusionen und nimmt übel, wenn sie ihm zerbrechen.

Der Partner hat mich unsicher gemacht. Es gelte jetzt, realistische Bedingungen zu stellen, um in die Beziehungssicherheit zurückzufinden. Gerade das erscheint den betroffenen Paaren aber viel zu banal. »Du hast deiner Geliebten eine Bluse gekauft! Wenn du willst, dass ich dir verzeihe, musst du mir einen Pelzmantel schenken!« Wer darf so materialistisch sein? Was geschehen ist, hätte niemals geschehen dürfen. Jetzt ist verloren, was einst mir gehörte! Wir haben es nicht leicht mit der Einsicht, dass wir die überraschungsfreie Liebe niemals besaßen, deren Verlust wir jetzt so unverzeihlich finden.