Vorsicht mit dem Populismusvorwurf

Die LINKE befasste sich bei einer Klausur mit der unübersehbaren Entfremdung zwischen Wählern und Parteien

  • Wilfried Neiße
  • Lesedauer: 3 Min.

Unter der Überschrift »Meinungsbild und gesellschaftliche Konfliktlagen« tauschten sich Landtags- und Bundestagsabgeordnete der Linkspartei sowie ihre Mitarbeiter am Montag bei einer Klausurtagung in Potsdam aus. Sie rückten dabei die veränderte parlamentarischen Praxis in den Mittelpunkt, die sie sich mit dem Auftreten der AfD herausgebildet hat.

Referent Hors Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung empfahl, mit dem Populismusvorwurf vorsichtiger zu operieren, denn sehr leicht könne er sich gegen seine Urheber wenden. In der offenen Demokratie würden letztlich alle Parteien ein populistisches Element an sich haben müssen, erläuterte er.

Unübersehbar sei eine Entfremdung zwischen Wählern und politischen Parteien, wie sie sich in den vergangenen Jahren herausgebildet habe. Was vor allem die SPD treffe, seien die verlorenen Kämpfe in den 1970er und 1980er Jahren, als traditionelle Industriestandorte Westdeutschlands nicht gehalten werden konnten. Kahrs zählte zum Problemfeld auch unerfüllte Versprechen und gebrochene Regeln. Dies alles habe zu wachsendem Misstrauen beigetragen. Auch die LINKE müsse sich da an die eigene Nase fassen. »Sie hat vieles gewollt, wenig bis nichts erreicht.«

Hinzu komme, dass das Eintreffen einer großen Zahl von Flüchtlingen in den vergangenen Jahren vielen Deutschen Angst gemacht habe. Die »Ankunft des Fremden« werde als Bedrohung gesehen und als Anschlag auf die bislang eher privilegierte Lebenslage der Deutschen, sagte Kahrs. Es existiere die Furcht, »in einem Meer von Fremden, die auch besser leben wollen, überschwemmt zu werden.« Die LINKE werde auch nicht mehr ohne weiteres als Vertreter ostdeutscher Interessen angesehen. Ehemalige Sozialdemokraten wie Oskar Lafontaine hätten ihren Anteil an dem Eindruck, dass sie es seien und nicht mehr die alte PDS, die »den Laden im Griff haben«.

Tendenziell zeichne sich die Frage ab, ob die politische Linke in Deutschland die Arbeiter »im Stich gelassen« oder gar verraten habe. Kahrs schilderte, dass heutzutage keineswegs eine eindeutige Milieuzuordnung der Parteien mehr gegeben sei. Mit 39 Prozent habe ein bedeutender Teil der Arbeiter die AfD gewählt. Doch komme die AfD auch bei den sogenannten Leistungsträgern auf 19 Prozent. Zu stellen hätten sich die Parteien heute dem Umstand, dass zwischen 20 und 30 Prozent der Wähler in Richtung Antipluralismus, Autoritätsgläubigkeit und latenter Fremdenfeindlichkeit offen seien. Noch betrage die Zustimmung zu Demokratie ganz allgemein 90 Prozent, bei genaueren Nachfragen zeichne sich aber ein schwindendes Vertrauen in die demokratischen Institutionen ab.

»Warum tritt diese Entwicklung jetzt auf?«, fragte der Referent. Warum die bedeutenden Erfolge der AfD im Osten, wo doch die LINKE lange Zeit ein Reservat hatte. Vielfach sei das mit »Abgehängten«, »Verlierern« und »alten weißen Männern« erklärt worden. Tatsächlich aber erwarten heute sehr viel mehr Menschen von der Zukunft nichts Gutes als dies noch in früheren Jahren der Fall gewesen ist. Abstiegsängste beeinflussen die politische Haltung. Umfragen zeigen, dass Werte wie Solidarität und Gemeinsinn im Schwinden seien und die Durchsetzungskraft gegen andere zur Erreichung egoistischer Ziele an Bedeutung zulege. Der die Gesellschaft prägende Neoliberalismus der vergangenen Jahrzehnte trage Früchte. Das komme in der Wahrnehmung vieler Menschen zum Ausdruck, dass Banken gerettet werden, Menschen aber nicht.

Enttäuschte Stammwähler von etablierten Parteien wechseln nicht etwa zu anderen Parteien, sondern gehen überhaupt nicht mehr wählen, lautete ein weiterer Befund Kahrs. Er verwies auf Institutionen wie die Bertelsmann-Stiftung. Dort verabschiede man sich bei der Meinungsuntersuchung vom Bild des »Verlierers« von Globalisierung und Wende. Stärker in den Mittelpunkt werde der »Modernisierungsskeptiker« gerückt. Tatsächlich müsse man fragen, ob eine besinnungslose Modernisierung nicht destruktive Züge trage. Als Beispiel nannte Kahrs das Verdrängen des alten Taxi-Angebots durch digitale Modelle. Es gebe für Skepsis in der Tat Anlässe. Der Anteil der Modernisierungsskeptiker ist in den verschiedenen Parteien ähnlich. Die LINKE stelle sich als Modernisierungsbefürworter dar, doch auch in ihrer Anhängerschaft sehe ein Drittel das kritisch. Ähnlich sei es bei der SPD und bei der AfD.

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