nd-aktuell.de / 12.04.2018 / Politik / Seite 13

Eine Stadt voller Zwangsarbeiter

Chemnitzer Gedenktafel erinnert an Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte in der NS-Zeit

Hendrik Lasch, Chemnitz

Als die Astra Werke AG im Jahr 1921 in Chemnitz gegründet wurden, ging es um Datenverarbeitung: In dem Betrieb sollte eine Rechenmaschine mit Zehnertastatur entwickelt werden. Im Industriemuseum in Chemnitz wird heute daran erinnert, dass das Vorhaben von Erfolg gekrönt war: Zu sehen sind einige der Geräte, die gebaut und 1933 auf der Internationalen Büromaschinenausstellung Berlin stolz präsentiert wurden.

Nicht erinnert wurde in Chemnitz bisher an ein anderes Kapitel aus der Geschichte der Astra Werke - eines aus einer Zeit, als Buchungsmaschinen für die zivile Nutzung dort kaum noch oder gar nicht mehr hergestellt wurden. Bis September 1943 wurde die Produktion - wie in vielen anderen Betrieben - komplett auf Rüstungsgüter umgestellt. Gefertigt wurden Technik für Lenkraketen, Rechengeräte für die Flugabwehr und, in einem Zweigwerk, monatlich 75 000 Gewehre und Karabiner für die Wehrmacht. Es war ein lukratives Geschäft: 1943 erwirtschafteten die Astra Werke, die im Mai des Folgejahres als NS-Musterbetrieb ausgezeichnet wurden, einen Gewinn von 783 900 Reichsmark. Möglich wurde das nur durch massive Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte: überwiegend zwangsverpflichtete Beschäftigte zunächst aus West-, später aus Osteuropa, Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge. Allein 510 Frauen und Mädchen aus dem Konzentrationslager Flossenbürg waren in ein Außenlager verlegt worden, das im 5. Stock des Werksgebäudes in der Altchemnitzer Straße 51 eingerichtet wurde. Sie schufteten unter ständigen Strafandrohungen, bei kärglichster Verpflegung und in strenger Isolation. »Deutsche! Wahrt inneren und äußeren Abstand zu Fremdvölkischen!«, mahnten Aushänge im Betrieb. Vor 73 Jahren, in der Nacht vom 12. auf den 13. April, wurden die KZ-Häftlinge nach Böhmen verlegt, um Platz zu machen für 700 Jüdinnen auf dem Todesmarsch.

Der Jahrestag ist jetzt Anlass, um erstmals in Chemnitz an das dunkle Kapitel örtlicher Industriegeschichte zu erinnern. Am ehemaligen Fabrikgebäude, in dem heute die Landesdirektion Sachsen ihren Sitz hat, wird eine Gedenktafel angebracht. Zum Festakt werden neben der Vizepräsidentin des sächsischen Landtags auch Diplomaten aus Polen und Weißrussland erwartet.

Die Initiative zur Anbringung der Tafel ging von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN aus; finanziert wurde sie aus Spenden. Der Weg war nicht ganz leicht; Beteiligte berichten von langwierigen Debatten mit der zunächst um Unterstützung gebetenen sächsischen Gedenkstättenstiftung um die Verwendung des Begriffs »Faschismus«. Auch das Rathaus sei um Unterstützung gebeten worden - »leider steht diese bis heute aus«, schrieb die VVN im Februar in einem Brief an mehrere Fraktionen im Stadtrat. Mancher in Chemnitz vermutet einen Zusammenhang zu einem kürzlichen Streit um eine andere Gedenktafel. Die Rotarier hatten eine Ehrung von Carl Hahn angeregt, hochrangiger Manager der einstigen Auto-Union. SPD-Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig hatte das zunächst unterstützt. Dann war die Rolle der Auto-Union und von Hahn in der NS-Rüstungswirtschaft thematisiert worden. Auch bei der Auto Union wurden ausländische Arbeitskräfte in großer Zahl ausgebeutet. Ludwig rückte öffentlich vom zunächst Geehrten ab; am Ende wurde die Tafel entfernt.

Nun werden statt eines Mittäters die Opfer geehrt - von denen es weit mehr gab als die bei Astra und Auto-Union Geschundenen. Das verdeutlicht eine Ausstellung, die von der Arbeitsgruppe »Historischer Atlas 1933 bis 1945« erarbeitet wurde. Sie wird im Foyer der Landesdirektion gezeigt und weitet den Blick: In Sachsen, heißt es dort, stellten ausländische Arbeitskräfte gegen Ende des Krieges ein Achtel der Beschäftigten. In 40 Rüstungsbetrieben in Chemnitz waren 38 000 Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene eingesetzt; sie waren in 130 Lagern im Stadtgebiet sowie weiteren im Umland untergebracht. Die Ausbeutung war allgegenwärtig. Das später einsetzende Vergessen wird dank der Gedenktafel jetzt beendet.