Heilung für eine schwärende Wunde

Gustav Horn fordert eine Hartz-IV-Reform, die auf entwürdigende Einkommens- und Vermögenskontrollen verzichtet

  • Gustav Horn
  • Lesedauer: 4 Min.

Hartz IV ist seit über zehn Jahren die schwärende Wunde der deutschen Wirtschaftspolitik. Wohl keine andere Maßnahme hat Politik und Gesellschaft derartig polarisiert. Es geht um das Arbeitslosengeld II, das an Langzeitarbeitslose nach einem Jahr Arbeitslosigkeit gezahlt wird. Hier hatten Reformen im vergangenen Jahrzehnt einen fundamentalen Bruch mit der Vergangenheit hervorgerufen, dessen politische und ökonomische Wirkungen bis heute nachhallen. Der für viele schmerzhafte Bruch bestand darin, dass das Arbeitslosengeld für Langzeitarbeitslose anders als bei der zuvor gültigen Arbeitslosenhilfe in keiner Weise mehr an das letzte Einkommen gekoppelt war, sondern ein Pauschalbetrag gezahlt wird, der sich nach einem errechneten Mindestbedarf richtet.

Damit wurde die einkommensmäßige Fallhöhe durch längere Arbeitslosigkeit deutlich erhöht. Insbesondere wurden langjährige Einzahler in die Arbeitslosenversicherung jenen gleichgestellt, die nie einen Beitrag entrichtet haben. Dies, die scharfen Kontrollen und Sanktionen sowie die häufig als zu gering empfundene Höhe des Betrags haben seit der Beginn zu massiver Kritik mit starker Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern dieser Reformen geführt.

Gustav Horn

Gustav Horn ist wissenschaftlicher Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK).

Politisch hat vor allem die SPD, deren Kanzler die Reform seinerzeit gegen Widerstände in der eigenen Partei durchsetzte, unter massiven Wählerverlusten zu leiden. Ökonomisch ist hochumstritten, welche Wirkungen von dieser Reform ausgingen, auch wenn das gegenwärtig vorherrschende politische Narrativ die aktuell gute Arbeitsmarktlage schlicht auf Hartz IV zurückführt.

Vor diesem Hintergrund ist es insbesondere aus Sicht der SPD nachvollziehbar, dass eine Reform der Reform gefordert wird, die zumindest einige der ökonomischen und politischen Mängel zu beseitigen versucht. Die Vorschläge des Berliner Regierenden Bürgermeisters Michael Müller zu einem »solidarischen Grundeinkommen« weisen dabei zwar in die richtige Richtung, gehen aber dennoch am Ziel vorbei.

Ein Grundproblem ist der hohe bürokratische Aufwand, der aus den engmaschigen und teilweise entwürdigenden Einkommens- und Vermögenskontrollen vielfach nebst anschließenden Gerichtsverfahren resultiert. Hier könnte eine radikale Vereinfachung helfen.

Man könnte als Bedingung für einen Anspruch auf Hartz IV einfach festhalten, dass man mindestens zwölf Monate lang arbeitslos sein muss und - wie derzeit auch - zur Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen muss. Dies würde den Kontrollbedarf und die juristischen Konflikte reduzieren. Und es wäre wesentlich effizienter, als einen solidarischen Arbeitsmarkt zu schaffen.

Der Änderungen für die Betroffenen wären gravierend. So wäre das Einkommen von anderen Haushaltsmitgliedern irrelevant. Auf diese Weise würden auch Menschen in den Genuss von Hartz IV kommen, deren Haushaltseinkommen derzeit über dem zulässigen Wert läge, aber dies kann als Prämie für jahrelanges Einzahlen in die Arbeitslosenversicherung gesehen werden. In gleicher Logik würden aufgebaute Vermögen geschont, die in der Regel ohnehin nicht allzu hoch sein dürften. Insgesamt dürfte sich wegen des Wegfalls der kostspieligen Kontrollen und Prozesse gleichwohl keine nennenswerte Erhöhung der Aufwendungen ergeben.

Mit diesem Vorgehen würde eine Art garantiertes Grundeinkommen bestehen, sofern man jahrelang in die Sozialversicherung eingezahlt hat. Dies erhöht den Anreiz tatsächlich, in die Versicherung einzuzahlen und sich nicht um Ausweichmöglichkeiten zu bemühen. Schließlich riskiert man dann, in die soziale Grundsicherung zu fallen, bei der die Kontrollen und Grenzwerte unverändert gelten würden und damit eine Obergrenze für das Haushalteinkommen besteht, ab der die Grundsicherung gekürzt wird.

Im Ergebnis verschlechtert sich durch diese Reform niemand, wohl aber werden langjährige Einzahler in die Sozialversicherung besser gestellt. Damit wird ein wesentlicher Grund für den Streit um Hartz IV ausgeräumt. Es bestünde damit die Chance, die gesellschaftlichen Konflikte um eine soziale Grundsicherung zu entschärfen. Gleichzeitig würde auch eine Brücke zu jenen geschlagen, die ein bedingungsloses Grundeinkommen für eine soziale Idee halten. Bedingungslos wäre das neue Hartz IV zwar nicht, aber fair, weil es geleistete Beiträge in Rechnung stellt. So bestünde die Chance, die schwärende Wunde endlich heilen zu lassen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal