Dunkle Materie bleibt rätselhaft

In den meisten Galaxien lassen sich die Sternbewegungen ohne sie nicht erklären, doch in einem System fehlt sie fast völlig.

  • Dieter B. Herrmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Immer wieder rückt die ominöse Dunkle Materie in den Fokus der Forschung - seit nunmehr 85 Jahren. Dabei ist der Begriff nach wie vor eine leere Worthülse geblieben, ein geheimnisvoll klingender Terminus für Unverstandenes. 1933 stellte der Schweizer Astronom Fritz Zwicky erstmals fest, dass sich die Bewegungen von Sternsystemen in Galaxienhaufen nur verstehen lassen, wenn man eine zusätzliche, aber nicht sichtbare Art von Materie annimmt, die sich lediglich durch ihre Anziehungskraft bemerkbar macht. Damals erntete Zwicky von seinen Fachkollegen nur Hohn und Spott. Zu verrückt erschien den meisten seine Erklärung.

Doch die Zahl der Indizien wurde mit der Zeit größer. Auch die Sterne in den Galaxien rotierten nicht so um das Zentrum, wie sie es nach der newtonschen Gravitationstheorie sollten. In den Außenbereichen hätte die Geschwindigkeit rapide abnehmen müssen. Doch sie blieb entweder konstant oder nahm sogar noch zu. Wieder sah alles so aus, als wäre ein großer Anteil Dunkler Materie mit im Spiel.

Besonders die US-Amerikanerin Vera Rubin hat dieses Verhalten durch sorgfältige Messungen an mehr als 200 Galaxien nachgewiesen. Dennoch wehrte sie sich stets dagegen, als Entdeckerin der Dunklen Materie bezeichnet zu werden. Völlig zurecht, denn sie hatte lediglich eine Anomalie festgestellt, für die man keine wirkliche Erklärung hatte. Als schließlich die von Einstein bereits vorhergesagten Gravitationslinseneffekte ab 1979 gefunden wurden, ergaben sich weitere Hinweise auf das Vorhandensein der Dunklen Materie. Steht nämlich ein fernes kosmisches Objekt genau hinter einem massiven, viel näheren Galaxienhaufen im Vordergrund, so bewirkt die von diesem ausgelöste Raumkrümmung eine Verzerrung oder sogar Vervielfältigung des Hintergrundobjektes. Das Objekt im Vordergrund wirkt ähnlich wie eine optische Linse. Dabei hängt das entstehende Bild von der Masse der »Linse« ab, so dass man diese daraus ermitteln kann. Die Resultate solcher Massenbestimmungen zeigten ebenfalls, dass gegenüber den sichtbaren Massen ein erheblicher Fehlbetrag auftrat, den man der Dunklen Materie zuordnete. So ergab sich im Laufe der Zeit ein immer detaillierteres Bild über die Verteilung der unsichtbaren Spezies sowohl in einzelnen Galaxien als auch in Galaxienhaufen und Galaxiensuperhaufen.

In jüngerer Zeit sind weitere Erkenntnisse aus der Nachbarschaft unseres Milchstraßensystems hinzugekommen, wonach einige größere Kugelsternhaufen sogar vorwiegend aus Dunkler Materie bestehen. Auch Galaxien, die fast nur aus Dunkler Materie zusammengesetzt sind, wurden bereits gefunden. Durchschnittlich ist in den Außenbereichen von Galaxien, dem sogenannten Halo, ein Anteil an Dunkler Materie anzutreffen, der jenen der sichtbaren Massen um den Faktor 30 übertrifft. Insgesamt liefert der Anteil Dunkler Materie einen Beitrag von rund 23 Prozent zur Energiedichte des Universums. Wenn wir nur die prinzipiell sichtbare sogenannten baryonische Materie des Universums betrachten und die ebenfalls ungeklärte Dunkle Energie beiseite lassen, macht die Dunkle Materie sogar 80 Prozent aus. Obwohl wir trotz emsigen Forschens noch keine Ahnung haben, worum es sich eigentlich handelt, wurde die große Unbekannte bereits in das kosmologische Weltbild eingebaut. Demnach konnten die Galaxien und Galaxienhaufen in einer frühen Phase der Entwicklung des Universums nur entstehen, weil die Dunkle Materie die Verklumpung überhaupt erst möglich machte. Ohne Dunkle Materie also keine Galaxien und Galaxienhaufen.

Für alle Anhänger dieser Hypothese bedeutet daher eine in der Fachzeitschrift »Nature« (Bd. 555, S. 629) publizierte Entdeckung eines Teams um den Astronomen Pieter van Dokkum von der Yale Universität (New Haven/USA) wohl einen ziemlichen Schock. Die Forscher fanden nämlich in einer diffusen, nahezu durchsichtigen und sehr sternarmen Galaxie mit der Kurzbezeichnung DF2, die etwa 65 Millionen Lichtjahre von uns entfernt ist, praktisch gar keinen Anteil an Dunkler Materie. Beobachtungen unter anderem mit dem Hubble Space Telescope und dem 10-Meter-Keck-Teleskop auf Hawaii führten aber zur Auffindung von zehn kompakten Objekten (vermutlich Kugelsternhaufen) innerhalb von DF2. Deren Bewegungen konnten mittels spektroskopischer Methoden bestimmt werden und siehe da, sie befinden sich völlig im Einklang mit dem newtonschen Gravitationsgesetz. Die Annahme zusätzlicher unsichtbarer Massen ist somit nicht erforderlich.

Das ist zweifellos eine große Überraschung für all jene, die Dunkle Materie für die Entstehung von Galaxien »benötigen«. Aber auch die Verfechter von modifizierten Gravitationstheorien (MOND), die Dunkle Materie für gar nicht existent, sondern nur vorgetäuscht halten, befinden sich jetzt in einem Dilemma. Sie gehen nämlich davon aus, dass bei sehr schwachen Gravitationsfeldern - wie im Außenbereich von Galaxien - das newtonsche Gesetz abgeändert werden muss. Mit diesem modifizierten Gesetz erklären sie die Bewegungen der Objekte ohne Dunkle Materie. Warum gilt ihr Gesetz dann aber nicht für die zentrumsfernen Gebiete von DF2?

So bleibt einstweilen die Erkenntnis, dass es offensichtlich auch Szenarien der Galaxienbildung gibt, die ohne Dunkle Materie auskommen. Man stelle sich beispielsweise vor, dass bei einer Kollision zweier Galaxien gewaltige Gasmassen weggeschleudert wurden, aus denen sich dann ein Gebilde wie die untypische diffuse Galaxie DF2 entwickelt hat. Doch Näheres wird man erst sagen können, wenn man noch weitere Exemplare von Galaxien gefunden hat, die DF2 ähneln und somit nicht in das bisherige Bild der meisten anderen Sternsysteme passen. Die Suche nach weiteren solcher diffusen Galaxien hat bereits begonnen.

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