Halb Schatten, halb Licht

Mit 34 Jahren wurde der Komponist Claude Vivier ermordet. Heute wäre er 70 geworden

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 3 Min.

Es gibt ein Foto des jungen Vivier. Darauf schaut der Schwarzschopf durch seine Brille direkt in die Kamera. Grübchen schmücken die Wangen. Das Gesicht ist zwiefach, wie die Masken der Mimen, halb Schatten, halb Licht. Die eine Hälfte lacht offenherzig. Was mag hinter der Haut der anderen sein? Es gefiel ihm, die Dinge um seine Musik und in ihr im Unklaren zu lassen, zu verschleiern, wie sie entstand und worauf sie gründete, im Übrigen auch seine komplizierten Lebensumstände, was allgemein den Vorzug hat, sie vor dem Zugriff allzu Neugieriger zu schützen.

Aber das war nicht sein Motiv. Vielmehr nährte sich Claude Viviers Kompositionskultur an dem, was nicht sofort ins Ohr fällt oder die Bedürfnisse unmittelbar anspricht. Gern betonte er das Unbekannte, Fremde, über die Horizonte weg, auch entlegene, imaginäre Schauplätze. Sodann schienen ihm religiöse Motive, fernöstliche Riten etc. geeignet, die Komposition zu beleben. Er hatte dazu Iran, Indien, Japan und Indonesien (Bali) bereist und dortige Musikkulturen studiert.

Die zahlreichen Mythen, von ihm selber kultiviert, machen es dem Betrachter schwer, jene oben benannten Seiten sinnvoll zusammenzudenken. »Ich möchte, dass Kunst eine heilige Handlung ist«, schrieb der Dreiundzwanzigjährige, »eine Freisetzung von Kräften, der Austausch mit diesen Kräften. Ein Musiker sollte nicht länger nur Musik gestalten, sondern eher Momente der Offenbarung.« Mit Musik und Denkweisen seines Lehrers Karlheinz Stockhausen vertraut (»Ceylon«, »Sternklang«, »Am Himmel wandere ich«), fühlte er sich diesen verbunden. Vor allem Stockhaussens »Mantra« für zwei Klaviere, Schlagzeug und Elektronik (1970), legendär uraufgeführt von Aloys und Alfons Kontarsky, muss auf den jungen Vivier einen tiefen Eindruck gemacht haben.

Geboren wurde er 1948 in Montréal als Sohn unbekannter Eltern. Der junge Mann, der mit 18 wegen »unreifen Benehmens« eines Priesterseminars verwiesen wurde und 1971 nach Europa ging (Utrecht, Köln, Paris), hätte sich eingebildet, seine leiblichen Eltern seien Osteuropäer oder sogar Juden gewesen, was einen starken Einfluss auf seine autobiografischen Stücke und seine Fixierung auf Einsamkeit und Mythenbildung gehabt habe, so die Auskunft des Vivier-Kenners Nathan Friedman.

Seine Musik - den Löwenanteil bilden Vokalwerke - birgt tatsächlich in vielem etwas »Heiliges«, was den Mann und seine Kompositionen bis heute anziehend macht. Sie kennt etwa eigens von ihm erfundene Wortsprachen, verarbeitet jenes Fremde an asiatischer Kultur und Kunst, das auch Maler wie Gauguin enorm angeregt hat. Intensive Blicke auf Liebe und Erlösung, auf die eigene Sexualität (er liebte Männer wie Frauen gleichermaßen), auf komplexe Phänomene von Leben und Tod beschäftigten ihn (»Musik für das Ende«, 1971).

Der Komponist ist nicht vergessen. In jüngster Vergangenheit gab es verschiedentlich Konzerte mit Vivier-Musik in Deutschland und Übersee. Im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses Berlin musizierte das Ensemble United Berlin mit dem Vocalconsort Berlin unter Vladimir Jurowski ein so erlesenes wie hochspannendes Programm. Die Sopranistin Allison Bell sang die Vokalparts, der Schauspieler und Sänger Max Hopp sprach die Texte. Den Rahmen bildete Viviers letztes Werk »Glaubst Du an die Unsterblichkeit der Seele?« für Stimmen, Sprecher, drei Synthesizer, zwei Schlagzeuger und Elektronik. Es kam in zwei Versionen, die letzte, abschließende in gesteigerter Form. Zu Beginn stimmt ein Tenor ein Liebeslied an und erhebt in einem bewegten Mittelteil das »Ideal ewiger Liebe bis zum exzessiven Schrei«. Ein Wahnsinnswerk, Zeremonie-Musik so sehr wie Kampf zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit. Angst, Schrecken, Liebe, auch rituelle Tänze und Szenen wechseln einander ab.

Das Werk soll den eigenen Tod vorgezeichnet haben. Der Frankokanadier fiel mit 34 Jahren in Paris einem Mord zum Opfer. An diesem Samstag wäre er 70 Jahre alt geworden.

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