Masochisten im Trainingsanzug

Für Christoph Ruf sind die meisten Fußballlehrer unheilbare Adrenalinjunkies

Man muss Fußballtrainer nicht bemitleiden. Zumindest dann nicht, wenn sie in der ersten statt in der neunten Liga arbeiten. Sie genießen alle Vorteile des Trainerdaseins, ohne sich mit all dem Mist herumschlagen zu müssen, der einem in der Kreisliga C oder der F-Jugend entgegenschwappt. Keine cholerischen Rentner, die im Magenbitter-Rausch stockschwingend herumpöbeln, keine Helikopter-Eltern, die als einzige das enorme Talent ihres Sohnes erkennen. Dafür jede Menge Geld aufs Konto, und die frische Luft gibt’s zum Arbeitstag gratis dazu.

Und trotz all dem tut mir Christian Streich gerade leid. Der Freiburger Trainer gehört bekanntlich zu den Emotionalen in der Branche. Das hat sich so weit herumgesprochen, dass nun jede Geste, jeder Gefühlsausbruch an der Seitenlinie beobachtet und einsortiert wird. Doch Streich, dessen Team im Abstiegskampf steckt, sind derzeit keine ruhigen Arbeitstage vergönnt. Keine ungefährdeten 3:0-Siege, nicht einmal ein mickriges 1:0, selbst dafür treffen die Stürmer zu wenig.

Bedauerlicherweise ist ihm auch kaum mal ein Tag ohne merkwürdige Schiedsrichterentscheidungen vergönnt. Wie am Sonnabend in Hamburg, wie am Montag zuvor in Mainz - beide Male zum Nachteil des Sportclub Freiburg, der nun weiß Gott schon ohne Referees genügend Probleme hat.

Nun weiß Streich natürlich, dass er das Image eines Rumpelstilzchens hat. Wenn er die Fassung verliert, sieht das anders aus, als wenn Jupp Heynckes die Fassung verliert. Vom Bayern-Coach gibt es allenfalls Jugendbilder, auf denen er sich so echauffiert, dass man sich Sorgen um seine Gesundheit macht. Wer bei Streich durch die Datenbanken klickt, findet Hunderte Bilder, bei denen die Halsschlagader bedrohlich herausragt. Man darf davon ausgehen, dass ihm diese Bilder nicht angenehm sind. Also hat er in Hamburg das Gleiche getan wie in Mainz, er hat sich direkt nach dem Schlusspfiff umgedreht, ist in Richtung Kabine geeilt und hat sich fünf Minuten gegönnt, um wieder runterzukommen. Dann ging es wieder. Halbwegs.

Ob so ein Trainerleben auf Dauer gesund ist, sei einmal dahingestellt. Emotionen, die man ständig im Zaum halten muss, um in der Instagram-Gesellschaft nicht allzu viel von sich preiszugeben, suchen ihren Weg ja anderswohin. So ist es bei Kindern, die am Frühstückstisch unausstehlich sind, weil sie nicht wissen, wohin sie die Nervosität packen sollen, die sie seit dem Vorabend gefangen hält. Erwachsenen geht es auch so. Nicht vorm Flötenvorspiel, aber vor einer wichtigen Präsentation oder einem Vorstellungsgespräch.

Für Trainer ist jeden Tag Flötenvorspiel. Mit Spielern als Publikum, die jede Geste, jeden Blick daraufhin abscannen, ob der Trainer sie am kommenden Sonnabend für die Startelf vorgesehen hat. Mit Journalisten, die - zumal bei Branchenriesen wie dem FC Bayern - beim Training zuschauen und hoffen, dass irgendetwas abfällt, das berichtenswert sein könnte.

Ständige Gesichtscamouflage ist also ein dringend angeratenes Mittel der Selbstverteidigung. Schön ist das alles nicht - und dennoch können 99,99 Prozent der Profitrainer nicht genug kriegen von ihrem Job. Es gibt jedenfalls nicht viele Trainer, die, wenn sie einmal im Profifußball aktiv waren, zurück in den Jugendbereich gehen, in dem viele von ihnen angefangen haben.

Zurück also zu einer Arbeit, die inhaltlich mindestens genauso erfüllend ist, sich vom Profifußball allerdings durch zwei Komponenten unterscheidet. Erstens: Man verdient deutlich weniger. Und zweitens: Die Öffentlichkeit fehlt. Glaubt man den Trainern, mit denen man unter vier Augen darüber spricht, dann ist das Geld bei vielen nicht der ausschlaggebende Faktor.

Öffentlichkeit kann nervend sein, oft deformiert sie in einer Überdosis genossen jede noch so stabile Persönlichkeit. Das ist das Bedenkliche an jeder Form des Prominentenhypes. Es gibt Trainer, denen das schmerzlich bewusst ist, die mit leuchtenden Augen vom Urlaub in den Everglades oder auf den Lofoten berichten und deren Rede oft einen überraschenden Satz beinhaltet: »Keiner hat mich erkannt, ich konnte ein ganz normaler Tourist sein.«

Eine Sehnsucht, das Urlaubs- zum Lebensgefühl zu machen und sich für immer aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, hört man dabei allerdings nie heraus. Etwas anderes ist stärker: Der Job, der einmal in der Woche so viel Adrenalin verspricht wie ein Steuerberater in seinem ganzen Berufsleben ausschüttet.

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