Größere Schritte

Wissenschaftler empfehlen der Mindestlohnkommission eine deutliche Erhöhung über die Tarifentwicklung hinaus

Ökonomen empfehlen der Mindestlohnkommission eine deutliche Erhöhung der gesetzlichen Lohnuntergrenze. Temporär sollte der Mindestlohn stärker steigen als die Tariflöhne, fordern Forscher der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in einer Stellungnahme für die Kommission. Denn das aktuelle Niveau falle im europäischen Vergleich - relativ zum jeweiligen mittleren Lohn - eher gering aus und sei noch nicht existenzsichernd. Bei der Höhe des Mindestlohns sehen die Experten daher »noch Luft nach oben«.

Der gesetzliche Mindestlohn - aktuell 8,84 Euro pro Stunde - wird alle zwei Jahre von einer Kommission angepasst, die aus Gewerkschaftern, Arbeitgebervertretern und Wissenschaftlern besteht. Derzeit laufen dazu schriftliche Anhörungen. Bis 30. Juni wird die Kommission eine Empfehlung an die Bundesregierung abgeben.

Bislang orientierte sie sich dabei allein an der Entwicklung der Tariflöhne in den zurückliegenden zwei Jahren. Damit würde der Mindestlohn ab 2019 lediglich auf 9,19 Euro steigen. Die Spielräume der Kommission sind aber weitaus größer - ginge es nur darum, die Tarifentwicklung nachzuvollziehen, wäre ein gesondertes Entscheidungsgremium, das zudem externe Expertisen einholt, wohl überflüssig. Gemäß ihrem Auftrag soll die Kommission denn auch in einer Gesamtbetrachtung die Entwicklung von Beschäftigung und Wettbewerbsbedingungen abwägen und vor allem einen angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherstellen.

Aber gerade diesen Mindestschutz bietet der Mindestlohn noch nicht, wie die Böckler-Forscher vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) und vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) konstatieren. Denn trotz der nachweislichen Lohnsteigerungen bei Geringverdienern um rund elf Prozent sei die Anzahl der Aufstocker seit seiner Einführung kaum gesunken: 2017 waren der Studie zufolge nach wie vor mehr als 190 000 Beschäftigte trotz Vollzeitjob zusätzlich auf Hartz IV angewiesen. Die Autoren machen dafür unter anderem die rasant steigenden Mieten verantwortlich.

Nach ihren Berechnungen wären in 19 der 20 größten deutschen Städte Stundenlöhne oberhalb von 8,84 Euro notwendig, damit alleinlebende Beschäftigte ohne zusätzliche Leistungen vom Amt über die Runden kommen können. In München beispielsweise würden dafür 12,77 Euro pro Stunde benötigt, in Köln 11,20 Euro, in Dresden und Berlin immerhin 9,44 Euro beziehungsweise 9,35 Euro. Soll der Mindestlohn existenzsichernd sein, reicht es demnach nicht, wenn er sich alle zwei Jahre nur um einige Cent erhöht. Dafür ist ein größerer Schritt nötig.

Der gesetzliche Mindestlohn ist in Deutschland erst 2015 und dann auf niedrigem Niveau eingeführt worden, was der starken Lobby der Mindestlohngegner hierzulande zu verdanken ist, die vor dramatischen Beschäftigungsverlusten und Wachstumsrückgang warnten. Deshalb ist bis heute der Abstand zu anderen Industrieländern, aber auch im Vergleich zu den Durchschnittsverdiensten in Deutschland groß. So machte der Mindestlohn im Jahr 2016 knapp 47 Prozent des mittleren Lohns aus - was auch international nur einen Platz im unteren Drittel entspricht. Nach Ansicht von Armutsforschern sollte ein Lohn, der zum Leben reicht, mindestens 60 Prozent des Medianlohns ausmachen. In Belgien, Irland, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden liegt die Lohnuntergrenze deutlich höher. In Irland hatten Beschäftigte 2017 Anspruch auf 9,55 Euro pro Stunde, in Frankreich waren es 9,88 Euro.

Die von konservativen Ökonomen prophezeiten Szenarien sind offensichtlich nicht eingetreten, betonen die Wissenschaftler in ihrer Bilanz. Im Gegenteil: Die Beschäftigung entwickele sich erfreulich dynamisch. Der Mindestlohn habe den privaten Konsum und die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt beflügelt.

Im April 2016 arbeiteten in Deutschland knapp 1,8 Millionen Beschäftigte für Stundenlöhne in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns. Mehr als vier Millionen Erwerbstätige verdienten aber weniger, wie das WSI herausgefunden hat. Die Wissenschaftler fordern deshalb von der Bundesregierung mehr Personal, das die Einhaltung des Mindestlohns durchsetzt.

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