• Kultur
  • Roman über Mittelschicht in den USA

Die Ordnung der Leistungsmenschen

Celeste Ng und das Dilemma nicht nur der US-amerikanischen Mittelschicht

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Shaker Heights heißt der Vorort von Cleveland, wo wir zu Beginn des Romans ein Haus brennen sehen. Mrs. Richardson steht im Bademantel vor der Tür. Die Teenager Trip, Lexie und Moody beobachten die Szene aus einiger Entfernung und haben ihre jüngere Schwester Izzy in Verdacht, das Feuer gelegt zu haben. Wir ahnen, dass es im Folgenden um das Ob und das Warum gehen wird.

Der Ortsname dürfte aus Sicht der Autorin kein Zufall sein. Den Shakern, im 18. Jahrhundert aus dem Quäkertum hervorgegangen, galt Arbeit als Gottesdienst. Tugenden wie Fleiß und Kreativität waren ihnen Voraussetzung für ein erfülltes Dasein. Sie lebten ehelos um des Himmelreiches Willen, nahmen aber gern Waisen in ihre Gemeinschaft auf. Privateigentum wurde abgelehnt. Im Shaker Heights von heute indes ist jeder stolz auf seinen Besitz, der den Erfolg des eigenen Lebens markiert.

Die Richardsons sind berufstätig - er als Anwalt, sie als Korrespondentin des Lokalblatts. Sie besitzen zwei Häuser, eines davon vermietet, vier Autos und eine Jacht. Als eine junge, alleinstehende Frau mit ihrer Tochter auftaucht, ist Elena Richardson gerührt über die eigene Güte, den beiden eine gerade leer stehende Wohnung ihres zweiten Hauses zu vermieten. Auch will sie ihnen gerne schenken, was sie nicht mehr braucht, und bietet Mia Warren, der Künstlerin, eine Arbeit als Haushaltshilfe an, damit sie die Miete bezahlen kann. So kommen sie in Kontakt. Mias Tochter Pearl wird zu einer Freundin der Richardson-Kinder.

Die Richardsons begreifen sich als Menschen mit Idealen. Schon Elena Richardsons Mutter war dem Integrationsverein beigetreten und hatte die Tochter 1963 zum großen Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit mitgenommen, der einer der Höhepunkte der Bürgerrechtsbewegung war. »Elena vergaß nie die Miene ihrer Mutter, diese Sehnsucht, die Welt ein bisschen besser zu machen. Ihre Überzeugung, dass alles möglich war, wenn man sich nur genug anstrengte, dass keine Arbeit zu schmutzig war.«

Celeste Ng, Kind chinesischer Einwanderer, ist selbst in einem Ort namens Shaker Heights aufgewachsen, der allerdings in Ohio lag. Wie in ihrem Debütroman »Was ich euch nicht erzählte«, 2014 bei dtv erschienen, dürften auch hier eigene Beobachtungen eine Rolle gespielt haben. Ebenso wie die Kinder der Richardsons wurde sie wahrscheinlich auf Leistung getrimmt. Sie studierte in Harvard, allerdings nicht Naturwissenschaften, sondern Literatur. »Sie schluckte die Träume ihrer Eltern«, hieß es im vorigen Roman, in dem es auch schon um einen Ausbruch ging.

Hier kommt der Anstoß dazu von außen - durch Mia Warren, die so ganz anders als Elena Richardson ist. Sie folgt keinem Prinzip, nur ihrer künstlerischen Intuition. Wenn die Richardson-Kinder in Bedrängnis sind, finden sie bei ihr statt Ermahnungen Zuflucht und Rat. Ohnehin hat das freie Wesen ihrer Tochter Pearl auf diese Wohlbehüteten schon ansteckend gewirkt.

Das alles ist in eine ungemein spannende Handlung gekleidet. Familiengeheimnisse werden aufgedeckt. Eine junge Chinesin, die aus Not ihr Kind vor einer Feuerwache abgelegt hatte, kämpft nun, einigermaßen zu Kräften gekommen, gegen die wohlhabende Familie, die es adoptieren will. Alles, was Teenagern widerfahren kann, geschieht. Und dazwischen - mal grotesk, mal mitleiderregend - Mrs. Richardson, die für ihre Familie das Beste will. Wie die vielen Mütter nicht nur in reichen, auch in armen Ländern drängt sie auf Fortkommen. Denn Leistung bringt Wohlstand, und materielle Sicherheit bringt Glück. Das meint sie jedenfalls.

Sarkastisch blickt die Autorin auf das mustergültig aufgeräumte Haus und den gepflegten Rasen. So also meinen diese Leute das Chaos zu bändigen, das sie bedroht. Warum sollen sie keinen Ort des Friedens haben, darf man fragen. Weil das eine lügnerische Harmonie ist, würde die Autorin antworten, weil das eine kalte Ordnung ist, die auch noch Maßstab für andere sein will. Unterdrückung, der man sich nicht beugen darf. Aufruhr ist gerecht.

Feuer auf jedem Bett in Mrs. Richardsons Haus. »Kleine Feuer überall« - sie können sehr hoch auflodern. Beim Lesen denkt man mit, was man Tag für Tag in den Fernsehnachrichten sieht.

Die sozialpsychologisch ausgelotete, überaus packende Handlung hat Zeit und Ort, dabei birgt sie ein Weltproblem. Die einigermaßen Erfolgreichen stellen die Regeln auf, mit dem unterschwelligen Vorwurf an die Ärmeren, dass sie sich bloß etwas mehr anzustrengen brauchten. Bildung, Bildung, Bildung! Und wenn alle Schüler eines Jahrgangs ihr Abitur mit der Bestnote ablegen würden, wo nähme man die Arbeitsplätze her, auf die sie Anspruch zu haben glauben?

Und werden die Richardson-Kinder, von denen zwei schon ein eigenes Auto haben, überhaupt so arbeiten wollen wie die Eltern? Meint die Mutter tatsächlich, die Rassentrennung sei abgeschafft? Und was ist mit der Klassentrennung?

Es sind nicht die ganz Reichen, die hier ins Bild kommen, es ist »nur« die Mittelschicht, die inzwischen schon zur Kasse gebeten wird, weil man die ganz Armen nicht weiter ausbeuten kann. Für das Dilemma dieser Mittelschicht versucht Celeste Ng, uns die Augen zu öffnen. Es sind ja gutherzige Leute, aber sie machen wohl einen Unterschied zwischen sich und den Ärmeren, denen sie sich als Vorbild hinstellen, von denen sie Anstrengungen verlangen, um auf ihr Niveau zu kommen.

Unwillkürlich dachte ich an eine liebe alte Tante aus Westberlin, die mir nach dem Fall der Mauer unter die Nase rieb, nach dem Krieg hätte sie auch ganz klein anfangen müssen. Ich dachte an die wahrscheinlich breite Ablehnung eines bedingungslosen Grundeinkommens, weil niemand etwas gratis bekommen darf, vor allem »die Ausländer« nicht, die doch ... Ja, all diese schlimmen Tiraden denkt man mit, wenn man liest.

Izzy hat sich Luft gemacht, indem sie das Haus anzündete. Bleibt sie eine Aussteigerin oder wird sie in den Schoß der Familie zurückgeholt? Feuer lodert auf, wenn die Verhältnisse unerträglich werden. Doch ist das eine Lösung?

Celeste Ng: Kleine Feuer überall. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit. Deutscher Taschenbuch Verlag, 384 S., geb., 22 €.

Lesung von Celeste Ng an diesem Mittwoch, 20 Uhr, in der Autorenbuchhandlung Berlin, Else-Ury- Bogen 600.

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