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Etwas Besseres als den Tod

Warum für polnische Obdachlose das Leben in Berlin oftmals besser als in ihrer Heimat ist

Wer Andrzej Dudek* sieht, wird nicht darauf kommen, dass er obdachlos ist. Der 25-Jährige sieht nicht verwahrlost aus. Er bettelt auch nicht an der Straße. »Ich trinke keinen Alkohol und nehme auch keine Drogen«, erzählt er. Trotzdem kann er nicht viel mehr als das, was er am Körper trägt, sein Eigen nennen. Geradezu unscheinbar wirkt er, trotz seiner Größe und seines massigen Körpers. Er ist eher ein leiser Mensch, der auch auf der Straße zurückgezogen lebt.

»Wohnungslosigkeit hat viele Facetten«, meint Alexandra Post von der Berliner Kontakt- und Beratungsstelle Klik im Bezirk Mitte, die für Andrzej Dudek zu einer festen Anlaufstation geworden ist. »Die Leute sind mit ihren Schicksalen sehr verschieden.« Zu ihnen in den Laden kommen hauptsächlich jüngere Menschen aus Osteuropa, vor allem aus Polen, derzeit aber auch aus Litauen oder Tschechien.

Andrzej Dudek ist seit anderthalb Jahren in Berlin. Er ist einer von rund 6000 Obdachlosen, die sich in der Hauptstadt durchschlagen. Mehr als die Hälfte von ihnen kommen mittlerweile wie er aus Osteuropa. Sie tauchen in keiner Statistik auf, sondern sind einfach da. Schlafen sie auf einer Parkbank, werden sie nicht vertrieben. Nur wenn ihre Camps in den Parks offensichtlich werden, lassen die Bezirke die Zelte abräumen. Im vergangenen Winter wurde die Kältehilfe erstmals auf über 1000 Plätze ausgeweitet, weil die Zahl der Bedürftigen angewachsen war. Die meisten Notübernachtungen und Nachtcafés haben inzwischen wieder geschlossen. Viele Bedürftige haben sich anderswo Unterschlupf gesucht.

Für die jungen Gestrandeten ist der Kontaktladen in der Torstraße tagsüber eine wichtige Anlaufstelle geworden. Wenn die Räume geöffnet haben, läuft eigentlich immer Musik. Die Besucher sitzen am Computer, lungern auf den Sofas herum, während sie aufs Essen warten, das vor Ort gekocht wird. Es gibt Duschen, eine Waschmaschine, für Drogenabhängige sauberes Spritzbesteck und einen Arzt. Brauchen sie Rat, stehen ihnen Sozialarbeiterinnen zur Seite.

Fast alle Besucher bei Klik befinden sich in einer schwierigen Lebenssituation, aus der sie oft nicht alleine herauskommen. Schließlich fehlen ihnen nicht nur eine Meldeadresse und ein Bett, sondern sie sind vom deutschen Hilfesystem gänzlich ausgeschlossen, bekommen keinerlei Grundsicherung und sind nicht krankenversichert. Die osteuropäischen EU-Staaten sind von dem europäischen Fürsorgeabkommen abgekapselt.

Für Alexandra Post ist das ein Dilemma: »Das Wegschauen ist krass. Wir können die Bedarfe zwar aufzeigen, aber sie nicht ohne Weiteres einfordern. Die von Leistungsausschlüssen betroffenen Leute bleiben in der Regel trotzdem hier und haben ein viel höheres Risiko zu verelenden.« Die Sozialarbeiterin erzählt von einer Schwangeren, die auf der Straße zusammen mit ihrem Freund lebte, der sie schlug. »Wir wandten uns an die Jugendhilfe, doch die fühlte sich nicht zuständig. Erst als wir unsere Befürchtung äußerten, dass die Frau möglicherweise ihr Kind auf der Straße entbindet und es in den Mülleimer wirft, tat sich endlich was.« Das Neugeborene sei dann in Obhut gekommen, erzählt sie. »Es war behindert, hatte ein fetales Alkoholsyndrom. Anfangs wollte die Mutter noch ihr Kind sehen. Doch dann sackte sie ab, nahm Heroin. Irgendwann war sie weg und kam nicht mehr.«

Wer den Kontaktladen aufsucht, hat meistens nicht erst in Berlin seine Wohnung verloren. Probleme hatten die meisten Besucher schon in Polen, Tschechien oder Litauen, weil sie aus kaputten Familien kommen. Auch Andrzej Dudek hatte eine schwierige Kindheit. Er wuchs in einem Kinderheim auf, wurde mit sechs Jahren adoptiert und lebte fortan in einer Pflegefamilie in der Nähe von Poznan. Probleme fingen mit seinem Coming-out an. »Meine Pflegemutter konnte nicht akzeptieren, dass ich schwul bin«, erzählt er in fließendem Deutsch. »Mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehen. Da war ich 19.« Eine Zeit lang lebte er in einer Wohngemeinschaft in Poznan, sie waren zu fünft, und er arbeitete als Lagerist bei Amazon. »Das war anfangs eine ganz gute Zeit. Aber dann haben meine Mitbewohner von meiner sexuellen Orientierung erfahren.« Er erzählt, wie er gemobbt wurde und schließlich auszog, ohne eine neue Bleibe zu haben. Als Aussätziger schlug er sich erst auf den Straßen Poznans durch, bevor er sich entschloss, nach Berlin zu gehen. Ohne Freunde, ganz auf sich alleine gestellt. Aber er hoffte dennoch, dass sein Leben dort einfacher sein würde.

Die Sozialarbeiterin Alexandra Post betont, dass sie mit dem Verein Klik lediglich auf die Not, die sie auf der Straße vorgefunden haben, reagiert hätten. Mittlerweile ist der Verein ein anerkannter Träger der Jugendhilfe. Unlängst hat die polnische Botschaft auch auf die grassierende Obdachlosigkeit in Berlin reagiert. Im November bekundete sie ihre Bereitschaft, sich um die verelendeten Landsleute zu kümmern und die Sozialarbeit in Deutschland zu unterstützen. Die polnische Stiftung Barka solle damit betraut werden, hieß es. Der Botschafter nannte auch Klik als möglichen Kooperationspartner in Berlin. Bis jetzt blieb es aber bei einer vagen Absichtserklärung.

Längst ist die Obdachlosigkeit in den Großstädten zu einem Politikum geworden, und wie in jeder Armutsdiskussion folgen dem Appell zu mehr Menschlichkeit sogleich skeptische Stimmen - in diesem Fall befürchten sie eine forcierte Einwanderung. Der Bezirk Spandau äußerte etwa unlängst die Sorge, dass bei einer Verbesserung des Angebots für ausländische Obdachlose Berlin für sie noch attraktiver werden würde und dies in der Folge noch mehr Menschen anlocken könnte.

Tatsächlich wählen andere Städte einen anderen Umgang mit ausländischen Wohnungslosen. Die Hansestadt Hamburg etwa versucht ziemlich offensichtlich, Obdachlose aus Osteuropa zu vergrämen. EU-Ausländer, die sich länger als vier Monate in Deutschland aufhalten, müssen dort nachweisen, dass sie aktiv eine Beschäftigung suchen. Wer dies nicht kann, dem wird eine Busreise in die Heimat nahegelegt. Diese Vorgehensweise zeigt durchaus Wirkung. Bei der Kältehilfe in der Hansestadt war der Andrang im vergangenen Winter im Gegensatz zu Berlin geringer als im Jahr zuvor.

Auch Andrzej Dudek tingelte eine Weile durch Deutschland. Schließlich ist er ungebunden. In den Westen zog es ihn, er bereiste Bonn, Essen und Dortmund. »Hat mir aber nicht gefallen«, sagt er knapp. Dortmund hat ohnehin einen miserablen Ruf bei Obdachlosen. Dort verteilt das Ordnungsamt regelrechte Knöllchen an sie und verlangt Bußgelder wegen »Lagerns, Kampierens und Übernachtens an öffentlichen Plätzen.« Mehr als 400 dieser Strafen verhängte das Amt im vergangenen Jahr.

Nach nur wenigen Wochen kehrte Andrzej Dudek nach Berlin zurück. Einmal mehr folgte er dem liberalen Ruf der Stadt. Dabei ist er auch in der Hauptstadt ausgegrenzt. Nur vom Hörensagen kennt er etwa das schwule Straßenleben in Schöneberg, wo es völlig egal ist, ob zwei Männer sich auf der Straße küssen. Zu dem Milieu hat er, obwohl er selbst homosexuell ist, keinen Zugang. Er ist unten. Ganz unten und so mittellos, dass er sogar manchmal zu den Geflüchteten aufblickt.

Wohl fühlt er sich auch inmitten von Obdachlosen nicht. Mit den vielen Trinkern, die er während der Winternächte in einer Notunterkunft nahe der Frankfurter Allee in Friedrichshain traf, will er nichts zu tun haben. Aber wenigstens wird er von ihnen in Frieden gelassen. Für einen Weggejagten ist das eine Menge. Trotzdem ist er niedergeschlagen. »Ich habe viele Probleme«, sagt er leise und erschöpft. »Ich brauche Hilfe, wirkliche Hilfe«, es klingt wie ein Eingeständnis.

Aber für ein menschenwürdiges Dasein braucht es nun einmal mehr als einen Schlafplatz und Ruhe. Andrzej Dudek träumt etwa von einem ganz normalen Leben. »Ich möchte arbeiten, eine Wohnung haben, vielleicht auch einen Hund.« Der Wunsch hört sich fast banal an, doch für ihn scheint er momentan so gut wie unerreichbar.

* Andrzej Dudek hat eigentlich einen anderen Nachnamen. Doch den wollte er nicht preisgeben. Ebenso wie er sich nicht fotografieren lassen möchte, weil er Angst hat, als Homosexueller angefeindet zu werden.

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