Die Nachtgedankenblume

  • Holger Teschke⋌⋌
  • Lesedauer: 3 Min.

Sie ist eine Denker-, mehr denn eine Dichterblume, eine Nachtgedankenblume und Hungerkünstlerin, die sich mit kargen und luftigen Orten begnügt.« Das schreibt Susanne Stephan in ihrem Porträt über die Nelke, das gerade in der von Judith Schalansky herausgegeben Reihe »Naturkunden« bei Matthes & Seitz Berlin erschienen ist. Darin entwirft die Lyrikerin und Essayistin nicht nur ein poetisches Bild dieser Blume der Denker, sondern zeigt auch ihre Metamorphosen durch die Jahrhunderte: von der Luxus-Blüte in den Lustgärten des Adels bis zum Kampfsymbol der Arbeiterbewegung. Wobei die französischen Sozialisten lieber rote Rosen trugen, weil in Frankreichs Theatern das Überreichen einer Nelke das Ende eines Engagements bedeutet. Wenn das die maidemonstrationsmüden DDR-Bürger gewusst hätten, dann hätten sie den Parteiführern mit ihren Nelken sicher mit ganz anderen Gedanken zugewinkt.

Susanne Stephan hat viele solcher Anekdoten aus Politik und Kunstgeschichte zusammengetragen und mit ihren persönlichen Gartengeschichten zu einem literarisch funkelndem Strauß gebunden. So erzählt sie vom Nelken züchtenden Samurai Tsugimatsu aus der Edo-Zeit, dem Nelken-Theater des Blumisten Heinrich Christian von Brocke und der Allwood Nursery im englischen Hassocks, in der das weltweit größte Archiv historischer Nelkensorten aufbewahrt wird. Auch in der Theatergeschichte spielte die Nelke eine wichtige Rolle: Der blühende Garten von Schloss Kenilworth soll Shakespeare zu seinem »Sommernachtstraum« inspiriert haben, und Pina Bausch entwickelte ihr grandioses Tanztheaterstück »Nelken« aus deren Blütenpracht.

Auch die Literaten haben ihr Tribut gezollt. Von Barthold Hinrich Brockes über Hugo von Hoffmansthal bis zu Paul Celan finden sich vielfältige Nelken-Metaphern. Bei den Dichterinnen scheint die Blume weniger beliebt gewesen zu sein, dafür enthält der Band prachtvolle Nelkenbilder von Sibylla Maria Merian, ihrer Tochter Johanna Helena Herolt sowie von Jane Loudon und Clara Maria Pope. Auch auf mittelalterlichen Marienbildern und Wandteppichen ist sie immer wieder zu finden, weil die Nelke im Vergleich zur prunkenden Rose bei den Kirchenvätern als fromm und bescheiden galt. In den Gemälden von Hans Holbein dem Jüngeren beginnt ihr Aufstieg als Symbol von Reichtum und Eleganz. Es dauert über drei Jahrhunderte, bis sie in die Knopflöcher von Arbeiterinnen und Arbeitern wanderte.

Im Mai 1890 tragen die deutschen Sozialdemokraten sie zum ersten Mal, weil sie wegen Bismarcks Sozialistengesetz öffentlich keine roten Fahnen entrollen dürfen. Die Nachtgedanken von Marx verhelfen der Nelke bald weltweit zu neuer Symbolkraft.

Im Schlusskapitel des ersten Blumenbuchs dieser Reihe finden sich Porträts von zehn verschiedenen Nelkenarten, die Falk Nordmann wunderbar detailliert gezeichnet und koloriert hat. Eine Pflichtlektüre nicht nur für jene, die auch in diesem Jahr wieder Mai-Demonstrationen oder -feste besuchten. Holger Teschke Abb. aus dem Buch: © E. Blackwell: A curious herbal, Vol. 1, 1737

Nelken. Ein Portrait von Susanne Stephan. Naturkunden bei Matthes & Seitz Berlin, 160 Seiten mit vielen farbigen Abbildungen, 18 €.

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