Drei Fragezeichen

Eine Antwort an Kevin Kühnert: Tom Strohschneider über Mitte-Links-Hoffnungen und Programmdebatten

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Kevin Kühnert hat eine interessante Frage aufgeworfen. Mit Blick auf SPD, Grüne und Linkspartei formuliert der Juso-Chef im »Handelsblatt«: »Alle drei Parteien kritisieren die Politik der Regierungschefin leidenschaftlich und scheuen sich dennoch, sich zu einer erkennbaren politischen Alternative zu formieren. Warum ist das so?«

Mal von dem banalen Hinweis abgesehen, dass eine der genannten Parteien gerade mit Angela Merkel koaliert, ist folgende Antwort vorzuschlagen: Es liegt nicht vor allem, wie Kühnert meint, an der »wechselseitigen Abgrenzung« im Mitte-Links-Lager. Es ist auch nicht so, dass man die »kannibalistische Form der Selbstbeschäftigung« allein mit neuen Gesprächen untereinander überwinden könnte. Und es stimmt auch nicht, dass »alle Kräfte links der Mitte ihre Neuaufstellung« schon »vorgenommen haben«, wenn der Linksparteitag im Juni vorbei ist. In Wahrheit hat sie noch gar nicht begonnen. Die Sozialdemokraten haben beschlossen, erst noch »zu einer mutigen und klaren innerparteilichen programmatischen Klärung zu kommen«. Die Grünen stehen ebenfalls am Anfang der Suche nach einer Antwort, »wie Politik die großen Herausforderungen unserer Zeit gestalten will«. Beide Parteien streben neue Grundsatzprogramme für 2020 an. Und in der Linkspartei wird nun auch nach inhaltlicher Nachbesserung gerufen.

Tom Strohschneider
Tom Strohschneider war bis Ende 2017 Chefredakteur von »neues deutschland«.

Der Wunsch folgt einer ähnlichen Logik, laut der sich die Parteien auf diesem Weg »erneuern« und Fragen beantworten könnten, die in der eigenen Organisation entstanden sind: weil sich die Welt weiterdreht, weil man sich selbst verändert. Angesichts der internen Konflikte etwa in Fragen der Migration oder der Haushaltspolitik könnte man aber auch sagen, dass Teile aus den drei Parteien inzwischen besser zusammenzupassen scheinen als verschiedene Strömungen einer Partei zueinander. Erstes Fragezeichen: Können neue Programme dieses Form-Substanz-Problem lösen?

Ein zweites Fragezeichen betrifft grundlegende Voraussetzungen des Politischen. Wenn etwa SPD und Grüne zurzeit viel Ankündigungsrhetorik vom Stapel lassen, wird zweierlei gern übergangen. Erstens, dass SPD und Grüne in Regierungen gerade viel tun, das nach dem Gegenteil aussieht. Ein Grund dafür ist zweitens, dass politische Wunschkataloge an die Mauern real existierender Verhältnisse stoßen.

Mit dem Gewerkschafter Hans-Jürgen Urban könnte man das Problem so beschreiben: »Die Interessen von Kapital und Arbeit materialisieren sich in der kapitalistischen Eigentums- und Aneignungsordnung. Diese Struktur stellt eine Dynamik auf Dauer, die den Reproduktionsinteressen der Arbeit (sowie der Gesellschaft und der Natur) entgegensteht und erzielte Erfolge stets zum Gegenstand neuer Kämpfe werden lässt. Sollen die Ideen von sozialer Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Solidarität und Humanität nicht an dieser Struktur zerschellen, muss sie selbst früher oder später zum Objekt normativ orientierter Transformationen werden.«

Bei SPD und Grünen gibt es Leute, die das auch so sehen. Sie sind in ihren Parteien in der Minderheit. Mehrheiten werden sicher nicht daraus, wenn man die Schwierigkeiten, im Kapitalismus soziale Integration, internationalen Ausgleich und ökologische Nachhaltigkeit durchzusetzen, als Aufforderungen zu politischem Attentismus missversteht. Im Gegenteil, sie sind Aufforderung zu linker Realpolitik. Eine solche braucht Maßstäbe, und da sind wir bei der Linkspartei.

Auch hierzu ein Fragezeichen. In einem umstrittenen Papier zur Migration konnte man unlängst den Satz lesen: »Linke Politik unterscheidet sich grundsätzlich vom Liberalismus.« Ernsthaft? Ist es nicht eher so, um einmal Oskar Lafontaine zu zitieren, dass Sozialismus in Wahrheit »ein zu Ende gedachter Liberalismus« ist? Ein Zustand, der wirkliche individuelle Freiheit erst möglich macht, indem er die materiellen Einschränkungen dieser Freiheit durch bewusste, demokratische Organisation der Produktion mindert, und zugleich die Potenziale der Freiheit entfesselt, die in der bestehenden Ordnung gefangen bleiben? Gilt das nicht mehr?

Wer will, dass sich eine »erkennbare politische Alternative« formiert, wird an der Beantwortung solcher Grundfragen nicht vorbeikommen. Zuallererst innerhalb der jeweiligen Parteien. Ob und was dann irgendwann zu gemeinsamer Politik in der Lage sein könnte, wird man sehen. Der Weg ist noch sehr lang.

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