nd-aktuell.de / 05.05.2018 / Kultur / Seite 22

Kälte, Wärme und metoo

Ängste zu überwinden, ist nötig für ein entspanntes Verhältnis der Geschlechter

Wolfgang Schmidbauer

»Man muss einen Mann längst nicht mehr individuell in Augenschein nehmen oder einer Tat überführen. Er steht unter Generalverdacht. Das ist keine Kleinigkeit. Philosophisch gesprochen, wird damit die Conditio humana gekündigt, die allen Menschen ein gleiches Maß an Menschlichkeit zumisst. Wenn für Männer keine Unschuldsvermutung gilt, werden sie - nicht nur in der feministischen Theorie - zu Menschen zweiter Klasse.«

So klagte Jens Jessen in der »Zeit«. Aus den von ihm zusammengetragenen Zitaten lässt sich so etwas wie eine »feministische Theorie«, die Männer in Menschen zweiter Klasse verwandelt, nicht wirklich untermauern. Verglichen mit der Angst, die eine körperlich unterlegene Frau empfindet, wenn ein Mann sie physisch bedroht, scheint die Angst erträglich, moralisch abqualifiziert zu werden. Zugegeben, es ist eine neue Angst, eine unheimliche Angst. Wer Angst hat, zählt jeden Feind doppelt.

Im römischen Recht galt der Grundsatz unus cum una - wenn eine Frau und ein weder mit ihr verwandter noch ihr angetrauter Mann ohne einen Zeugen in einem Raum zusammen waren, durfte der Richter annehmen, sie seien miteinander intim gewesen. Eine Frau, die Wert auf ihren Ruf legte, achtete auf solche Dinge. Schiller hat in seinem politisch wirklich unkorrekten Gedicht »Kastraten und Männer« unter anderem den Vers geschmiedet: Ich bin ein Mann, mit diesem Wort/Begegn’ ich ihr alleine/Jag ich des Kaisers Tochter fort/So lumpicht ich erscheine.

Ohne Zeugen zusammen zu sein ist heute für beide Geschlechter gefährlich geworden. Jeder Mann ist ein Vergewaltiger - jede Frau ist eine Rachegöttin, die den Mann nach Lust und Laune des Übergriffs verdächtigt und ins Gefängnis bringt. Realistisch gesehen müsste vor Vergewaltiger und Rachegöttin »potenziell« stehen. Wo aber die Angst regiert, herrscht immer das Worst-Case-Scenario. Und eines ist durch metoo definitiv klar geworden: Beide Geschlechter haben die Möglichkeit, einander Angst einzujagen und das Selbstgefühl des Gegenübers zu zertrümmern.

Es tut den realen Opfern stalinistischer Schauprozesse Unrecht, die heterogenen Stimmen feministischer Kritik mit einer Diktatur zu vergleichen. Fanatiker, die Ankläger, Richter und Henker in Personalunion sein möchten, gibt es unter Männern so gut wie unter Frauen. Wer hinter die Kulissen blickt, wird bald herausfinden, dass beispielsweise die Vorverurteilungen des Publizisten Kachelmann von Männern in den Redaktionen und in der Staatsanwaltschaft genauso hastig vorangetrieben wurden wie von Frauen, während umgekehrt auch Feministinnen Gomringers Gedicht verteidigt haben, das (übrigens von einem weiblich geprägten Gremium) erst an einer Mauer platziert wurde und dann dem Sexismusverdacht zum Opfer fiel.

Menschen brauchen Wärme, um sich zu entwickeln und sich sicher zu fühlen. Wo aber die Angst regiert, regiert auch die Kälte. Eine Mutter beobachtet ihr spielendes Kind mit leuchtenden Augen: die Urszene der Entwicklung unseres Selbstgefühls. Aber sobald sie glaubt, ihr Kind in Gefahr zu sehen, wird ihre Stimme schneidend, ihre Aktionen werden rücksichtslos, sie reißt das Kind aus dem Spiel: Pass doch auf!

Dieser Gegensatz von Kälte und Wärme, von Angst und Offenheit prägt alle Beziehungen. Es ist der große Fortschritt der romantischen Liebe, dass sie sich hier beide Geschlechter gleich einflussreich wünscht - und das hat einen Preis. Erst einmal müssen die Ängste gerecht verteilt werden, dann haben wir auch eine Chance, in den Anspruch einer gegenseitigen Offenheit und zärtlichen Aufmerksamkeit hineinzuwachsen.

Die Kälte des Mannes, der nötigt, der Sex erzwingen will, wurzelt in eigenen Ängsten, nicht jedes Mal, wenn der Narzissmus es gebietet, sich der Macht seines Phallus zu vergewissern. Die Kälte der Frau hingegen wurzelt in ihrer Angst vor der Kälte des Mannes, der ihr Bedürfnis nach Anerkennung ihrer Persönlichkeit nicht wahrnimmt und sie zum Objekt seiner Bedürfnisse machen will, in der Scham, dass ihr Stolz gebrochen wurde und sie ohnmächtig war.

Männer und Frauen werden die Krise, für die metoo steht, nicht durch mehr oder weniger erregte Debatten lösen, wer jetzt mehr Grund hat, Angst zu empfinden, Rache zu fürchten, sich im Recht zu wähnen. Nicht Vorwürfe, Misstrauen und schon gar nicht Rechthaberei bieten einen Ausweg, sondern die auf das Gegenüber gerichtete Aufmerksamkeit, das Leuchten in den Augen: Es ist gut, dass es dich gibt, was können wir miteinander anfangen und weiterentwickeln, damit wir uns beide wohl und sicher fühlen.