nd-aktuell.de / 11.05.2018 / Politik / Seite 14

Verhandelt wird im Festsaal

Für den neuen Prozess gegen den Patientenmörder Niels H. in Oldenburg reicht kein Gerichtssaal aus - die Weser-Ems-Halle wird umgebaut

Hagen Jung

Jahrzehnte lang galt Carl Großmann als Deutschlands Serienmörder mit den vermutlich meisten Opfern. Bis zu 100 Mädchen und Frauen soll der gelernte Schlachter in Berlin getötet und einige von ihnen zu Wurst und Dosenfleisch verarbeitet haben, hieß es. Doch geklärt werden konnten die Fälle nie, weil sich der Beschuldigte, der bei Vernehmungen nur drei Morde gestanden hatte, noch vor seinem Strafprozess 1922 im Gefängnis erhängte. An der traurigen Spitze in puncto Opferzahl steht mittlerweile ein anderer Mörder: der ehemalige Krankenpfleger Niels H., der in Niedersachsen - in Krankenhäusern in Oldenburg und Delmenhorst - von 2000 bis 2005 mit der Injektionsspritze sein Unwesen trieb.

Bereits 2015 wegen sechs Morden an Patienten zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und seither in der Justizvollzugsanstalt Oldenburg einsitzend, steht er Ende Oktober erneut vor Gericht, denn: 97 weitere Tötungen durch das Einspritzen hochwirksamer Medikamente wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor.

Sie hat, anders als es vor fast 100 Jahren im Fall Großmann war, umfangreiches Beweismaterial in ihren Akten, aufbewahrt in mehreren Umzugskartons. Gutachten sind darunter, allein diese Expertisen füllen mehrere tausend Seiten. Weder sie noch die voluminöse Anklageschrift müssen im Verlauf der bislang angesetzten 24 Verhandlungstage vorgelesen werden. Stattdessen erhalten die Prozessbeteiligten die Unterlagen zum Selbstlesen. Dieses Verfahren erspart dem Gericht viele Sitzungsstunden in der Oldenburger Weser-Ems-Halle. Dieses Veranstaltungszentrum wird - umgebaut - der Ort der Hauptverhandlung sein, weil es im Justizgebäude keinen Saal gibt, der die vielen zum Prozess erwarteten Menschen fasst. Neben der Strafkammer, dem Angeklagten und seiner Verteidigerin sowie Zeugen und Sachverständigen werden wohl rund 120 Nebenkläger nebst ihren Anwälten teilnehmen. Angehörige von Patienten, die womöglich von Niels H. umgebracht worden sind. Das Erörtern der Einzelfälle könnte den Hinterbliebenen womöglich endlich Gewissheit über das Schicksal vieler bringen, die seinerzeit auf den von Niels H. betreuten Stationen verstarben.

Ob diese Menschen in den Krankenhäusern vom Angeklagten mit Herzmedikamenten totgespritzt wurden, hatte eine Sonderkommission der Kriminalpolizei unter anderem durch gerichtsmedizinische Untersuchungen von 135 Leichen ermitteln lassen. Die Toten wurden dazu aus ihren Gräbern geholt. Vielleicht wird sich die Beteiligung von H. am Tod von mehr als 100 weiteren Patienten nicht nachweisen oder ausschließen lassen, weil jene Frauen und Männer nicht exhumiert worden konnten: Sie waren kurz nach ihrem Tod eingeäschert worden.

Auch das Motiv des Ex-Pflegers für seine Taten dürfte in Oldenburg noch einmal zur Sprache kommen. Niels H., so lassen sich die entsprechenden Erkenntnisse der Ermittlungsbehörden zusammenfassen, hatte aus Geltungssucht gehandelt. Spritzen mit Medikamenten, die gegen Herzrhythmusstörungen helfen, setzte der Pfleger bewusst solchen Menschen, die an diesen Mitteln sterben konnten. Er brachte die Patienten mit seinen Injektionen an den Rand des Todes, es kam zum Herzstillstand. Signalisierten die Überwachungsmonitore an den Krankenbetten dann Alarm, eilte H. herbei, versuchte, die Betroffenen wiederzubeleben - und wenn ihm dies gelang, stand er als der »große Retter« da. Doch in vielen Fällen blieb H. erfolglos mit seiner Reanimation.

Für H. selbst wird der Prozess in puncto Strafmaß nichts ändern. Zu lebenslanger Freiheitsstrafe war er bereits im Februar 2015 verurteilt worden, auch hatte das Gericht seinerzeit ein lebenslanges Berufsverbot gegen den Mann verhängt und zudem seine »besondere Schwere der Schuld« festgestellt. Das heißt: Er kann nicht automatisch nach 15 Jahren auf Bewährung freigelassen werden. Vielmehr prüft die Justiz nach dieser Zeit, ob und wie viele Jahre der Verurteilte schuldangemessen noch »sitzen« soll, ehe er eventuell unter Bewährungsauflagen freikommt. Dabei wird auch geprüft, ob der Betreffende eine Gefahr für die Öffentlichkeit bedeuten könnte. Es ist im Fall des Ex-Pflegers durchaus möglich, dass lebenslang tatsächlich bedeutet: Niels H. bleibt im Gefängnis - bis zum Tode.