Der unversöhnte Marx

Wer sich heute mit Karl Marx beschäftigt, sollte ihn nicht nur als Verfasser politökonomischer Werke begreifen, sondern auch als großen Philosophen.

  • Konrad Lindner
  • Lesedauer: 5 Min.

In die akademische Beschäftigung mit Karl Marx zieht ein neuer Geist ein. Vor unseren Augen vollzieht sich eine wissenschaftliche Innovation, durch die Marx entgegen seiner Selbstdarstellung als ein Philosoph und noch dazu als ein Querdenker mit Relevanz für das geistige Leben der Gegenwart entdeckt wird. Proklamierte der Absolvent der Universitäten in Bonn und Berlin, dass er für die Aufhebung der Philosophie einstehe, war das seiner Pathetik der eingreifenden Praxis und der Kritik aller unhaltbar gewordenen Zustände geschuldet.

Aber seine Hinwendung zum Handeln wird längst als ein Erbteil ausgemacht, das ihn mit dem Aufklärer Immanuel Kant und dessen »Kritik der reinen Vernunft« ebenso eint wie mit dem Logiker und analytischen Vordenker des Rechtsstaates, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Kant pochte auf das Heraustreten aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, Hegel beförderte die geistig-praktische wie institutionelle Erhebung des Menschen zur Freiheit, Marx hingegen fokussierte sich auf die Veränderung der vorgefundenen Welt, während nach ihm Ernst Bloch in Leipzig und in Tübingen den aufrechten Gang einforderte. All diese deutschen Philosophen mischen sich heute in der Berliner Republik zu einem Chor der Meisterdenker.

In diesem Sinne ist das neueste Buch des Münsteraner Philosoph Michael Quante zu verstehen (»Der unversöhnte Marx. Die Welt in Aufruhr«). Ein Vorzug des handlichen Marx-Buches aus dem mentis-Verlag ist, dass es in die Hand- oder Brusttasche passt. Der Verfasser setzt in diesem Band eine noch deutlich freiere Brille auf als einst Alfred Schmidt in Frankfurt am Main im Rahmen seiner Studie »Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx« (1962). Michael Quante lässt viele der gewohnten Streitthemen links liegen, denn ihm liegt ausdrücklich daran, im Spätwerk wie im Frühwerk einheitlich nach dem Logiker Marx und nach dem Philosophen Marx zu fahnden. Er setzt dem Dogma der Aufspaltung in den frühen und den späten Marx die These von der Kontinuität zentraler philosophischer Denkmotive entgegen.

Ein guter Griff, wenn man beispielsweise dem Leibdenken von Marx in den Pariser Manuskripten und in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie nachgeht, wonach die Erde für die Menschen nicht weniger ist als ihr »unorganischer« Leib, den sie nicht schinden, sondern schonen sollten. Auf dem angeblich unphilosophischen Feld der Analyse des Kapitalismus hat Quante wie ein Maulwurf gewühlt, um nach Verwandlungen und Verkehrungen des Wirklichen zu suchen, wie sie in einer jeden Ontologie seit der antiken Geburt der Philosophie verhandelt werden. Die Welt ist nicht nur mit sich selbst in Konflikt, sie ist gar, wie es im Untertitel des Quante-Buches heißt, eine »Welt in Aufruhr«.

Wir leben in Zeiten einer Sinn- und Lebenskrise, deren irdischer Kern darin besteht, dass »der Kapitalismus« derzeit »an vielen Orten der Welt in vielfältigen Formen ungeschminkt sein hässliches Gesicht« zeigt. Die Krise des politischen Systems der westlichen Demokratie, die Wirtschafts- und Finanzkrisen, die Artenvernichtung und der Klimawandel, der exzessive Waffenhandel und die heißen Kriege und vor allem eine neue Spirale der atomaren Rüstung liefern uns einem Abgrund aus, in den wir nicht schicksalhaft stürzen müssen, aber in dem wir bald untergehen könnten. Folglich haben längst viele Menschen begonnen, den Willen und die soziale Kraft aufzubringen, die Krisen unserer Zeit durch ein Netz von Transformationen im Interesse künftiger Generationen ein gutes Stück weit zu überwinden. Die Marx’sche Vision eines wirklich menschlichen Lebens ist eine Maxime, die im privaten wie öffentlichen Einsatz für ein gelingendes Leben und für gesunde Bürger- und Zivilgesellschaften viel Sinn stiftet.

Ein akutes Problem der westlichen Demokratien ist es, dass im jetzigen digitalen Zeitalter, in der Flut der Datenströme, in der Fülle der Informationen und im Meinungschaos der Talkrunden ein Defizit an geistiger Durchdringung besteht. Quante erzählt, dass für den Kapitallogiker Marx ein Tisch nur anfänglich »ein ordinäres sinnliches Ding« gewesen wäre. Aber dann hätte sich Marx wie später Heidegger die Brille der ontologischen Analyse aufgesetzt, die erkennen lässt, dass sich mit dem sinnlichen Tisch - meinetwegen mit dem Ikea-Klapptisch »Norden« - eine Verwandlung ereignet: Denn »sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding.« Er hat nicht nur Gebrauchswert, sondern auch Tauschwert. Die Kassen eines multinationalen Einrichtungskonzerns kann niemand passieren, ohne zu bezahlen, wenn er einen Holztisch mit nach Hause nehmen möchte. Ein Tisch hat Tauschwert. Er ist nicht nur Ergebnis konkreter Tischlerei, sondern auch Resultat gesellschaftlicher oder abstrakter Arbeit. Zwischen Käufer und Verkäufer besteht eine soziale Beziehung.

Die Leistung von Quante ist nun, dass er derartige Analysen zur sozialen Wirklichkeit, zu ihren Schichtungen und Verwandlungen in ihrer philosophischen Dimension untersucht. Die Marx’schen Analysen über die Funktionslogik der kapitalistischen Warenproduktion betrachtet er nicht als Volkswirtschaftslehre und nicht als politische Ökonomie, sondern als Teil einer dialektischen Logik sowie als Manifestation einer philosophischen Anthropologie. Um es noch einmal zuzuspitzen: Quante geht mit Bravour daran, das Werk »Das Kapital« und die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« ausgehend von Hegels »Wissenschaft der Logik« sowohl unter dem Blickwinkel der philosophischen Anthropologie als auch von einer Lehre des Seienden her zu besprechen, was exemplarisch ist für ein Neues Denken in der Marx-Forschung.

Quante hat mit seinem Marx-Buch eine Landkarte erarbeitet, die alle benötigen, die sich in die Fülle der Texte von Marx nun detaillierter hineinbegeben möchten. Zu dieser Übersicht gehört hier und dort die gedankliche Revision sowie durchweg ein kritischer Umgang mit der Marx’schen Kritik. Aber wer als Philosoph in Zeiten der Sinnkrise und der Entfremdung im geistigen Raum der Ethik Vorschläge für ein gelingendes Leben machen möchte, so der Ansatz von Quante, der benötigt das Gespräch mit Marx und seinen Texten bei der Analyse von Struktur und Funktion der kapitalistischen Warenproduktion. Die Philosophen treiben Anthropologie und Ontologie, wenn sie im heutigen Kapitalismus den Verwandlungen von Gebrauchswert in Tauschwert, von Tauschwert in Geld, von Geld in Mehrwert und von Mehrwert in Profit nachgehen. Aber sie spüren allen diesen Verwandlungen deshalb analytisch nach, um die Wege ausfindig zu machen, die institutionelle Formen freisetzen, durch die sich das bislang ungebremste Wachstum stoppen und bürgerschaftlich zähmen lässt.

Michael Quante: Der unversöhnte Marx. Die Welt in Aufruhr. mentis Verlag, 115 S., brosch., 12,90 €.

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