Unabhängigkeit bedeutete Krieg

Biblisches Land, wiederbelebte Sprache, viele Feinde: Vor 70 Jahren entstand der Staat Israel.

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 8 Min.

Tagelang war das Radio an gewesen. »Ich habe bis heute dieses gespenstische Pausenzeichen in den Ohren, das sich immer wiederholte«, erzählt Leah Kristal aus Tel Aviv. Sie war acht, damals, am 14. Mai 1948. »So richtig verstanden habe ich nicht, was los ist, aber auch mir war klar, dass etwas Großes bevorsteht. Es lagen Angst und Unsicherheit und auch Hoffnung in der Luft. Die Straßen waren leer. Die Menschen standen vor den Häusern und in den Fluren und haben leise miteinander geredet.«

Zwei Tage zuvor hatte die Minhelet HaAm getagt, eine jüdische De-facto-Regierung unter Führung von David Ben Gurion, damals Vorstand der Zionistischen Weltorganisation und der Jewish Agency sowie Vorsitzender der Vorstaatsregierung. 1922 hatte der Völkerbund Großbritannien, dessen Truppen die Region 1917 von den Osmanen erobert hatten, das Mandat erteilt, Palästina - wie das gesamte Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer damals genannt wurde - zu verwalten, bis die Frage der Zukunft der Region geklärt sei. Anfang 1948 hatte die britische Regierung dann angekündigt, das Mandat zum 14. Mai zu beenden, während immer wieder arabische Milizen in das Mandatsgebiet eindrangen und sich Kämpfe mit jüdischen paramilitärischen Gruppen lieferten.

Am 12. Mai waren bereits kaum noch britische Soldaten in der Region; Alan Cunningham, der Hochkommissar der Briten, befand sich auf dem Weg nach Haifa. Und für die Minhelet HaAm ging es um die Frage: Soll man einen Waffenstillstand mit den arabischen Staaten eingehen, die die Milizen mit Geld und Waffen unterstützen? Oder soll man die Unabhängigkeit erklären? Stundenlang sei darüber gestritten worden, erinnerte sich zu Lebzeiten Schimon Peres, der seit der Staatsgründung bei allen wichtigen Ereignissen dabei gewesen war. Als junger Mann war er auch in der Nähe, als die Minhelet HaAm um die Zukunft rang: »Es ging um die Frage, ob man der internationalen Gemeinschaft vertrauen kann, einen Waffenstillstand zu vermitteln und durchzusetzen. Jedem war bewusst, dass er das Leben von vielen tausend Menschen in der Hand hat. Die Briten waren so gut wie weg, wir waren da, inmitten von Arabern, die uns nicht da haben wollten. Jeder wusste, dass eine Unabhängigkeitserklärung einen Krieg bedeuten würde, und die Frage war auch, ob wir militärisch stark genug sind, um einen Krieg zu überleben.«

Es war 15.59 Uhr am 14. Mai, als das Pausenzeichen im Radio verstummte: »Ganz plötzlich herrschte überall absolute Stille«, sagt Leah Kristal. Kurz nach 16 Uhr begann David Ben Gurion damit, die Unabhängigkeitserklärung zu verlesen.

Auch in Jaffa saßen die Menschen zu dieser Zeit vor dem Radio. »Das Gefühl war eines von Zorn und Wut«, erinnert sich der damals zehnjährige Mahmud Husseini: »Überall war dieses Gefühl, dass da Fremde gekommen sind und uns jetzt unsere Heimat wegnehmen. Man hatte sich schon seit Jahren erzählt, dass jüdische Milizen Araber ermorden oder sie aus ihren Häusern vertreiben. Heute wissen wir, dass manches davon stimmte, vieles aber auch nicht, und dass auch unsere eigenen Leute damals Verbrechen an Juden verübt haben.«

Heute, 70 Jahre später, lassen sich ganze Bibliotheken mit den Büchern, mit den wissenschaftlichen Arbeiten füllen, die sich mit absolut jedem Aspekt der Ereignisse befassen, die sich vor und nach dem 14. Mai 1948 zugetragen haben.

Begonnen hatten diese Ereignisse im 19. Jahrhundert in Europa: Unter dem Eindruck von Antisemitismus und antijüdischen Pogromen begannen jüdische Autoren damit, über Alternativen nachzudenken; der Gedanke, dass ein eigener Staat für das jüdische Volk die Lösung sein könnte, kam bereits um 1850 erstmals auf, doch wirklich bekannt wurde die Idee durch den österreichischen Journalisten, der 1896 das Buch »Der Judenstaat« veröffentlicht hatte. Darin und in seinem Nachfolgewerk »Altneuland« entwickelte Theodor Herzl Konzepte für ein modernes, säkulares Staatswesen und wurde damit zum Gründer des politischen Zionismus. Schon 20 Jahre zuvor hatte indes der in Russland geborene Journalist Elieser Jitzhak Perlmann, der später den Nachnamen Ben Jehuda annahm, damit begonnen, eine moderne hebräische Sprache mit möglichst einfacher Grammatik zu entwickeln; ein Volk brauche nicht nur einen eigenen Staat, sondern auch eine eigene Sprache, so Elieser.

Herzl selbst wollte keinen bestimmten Ort für den Judenstaat; doch schon beim ersten Zionistischen Weltkongress 1897 musste er erkennen, dass für einen Großteil der Teilnehmer nur ein Staat auf dem Gebiet des biblischen Landes Israel akzeptabel sein würde und auch die Symbole des Staates deutliche jüdische Konnotationen haben müssten. Kurz vor Beginn des Kongresses entwarf er deshalb die heutige israelische Flagge: Die blauen Streifen oben und unten sind einem Gebetsschal nachempfunden. In die Mitte setzte Herzl einen Davidsstern.

Bereits bevor zionistische Ideen eine Rolle spielten hatte 1882 die erste Alijah, wie die Einwanderungswellen genannt werden, begonnen, wobei sich die insgesamt 35 000 Personen vor allem im Südwesten des heutigen Syrien ansiedelten. Ab 1904 folgten dann weitere Alijot, und sehr oft brachten die Einwanderer in diesen Jahren sozialistische Ideen mit, versuchten, sie umzusetzen.

Schon sehr früh entstanden so die Kibbuzim, Kooperativen, Gewerkschaften, Krankenversicherungen, während die Zionistische Organisation auf staatliche Strukturen hinarbeitete: Regierungsähnliche Organisationen wurden geschaffen, eine eigene Polizei und paramilitärische Organisationen, während die Funktionäre ständig stritten, debattierten: Wie viel Religion soll im Staat sein, wie sollte das Verhältnis zu den Arabern aussehen, die damals noch die deutliche Mehrheit stellten? Aber vor allem: Wie wollte man an das Land kommen, das man für den Staat brauchte? Es erobern? Es kaufen? Darüber verhandeln? Und wo sollte man die Grenze ziehen? Einigkeit in diesen Fragen gab es nie, außer in einer Sache: Man wollte so schnell wie möglich so viele Juden wie möglich nach Palästina schaffen, um Tatsachen zu schaffen.

Die Araber indes standen den Entwicklungen zunächst sehr ambivalent gegenüber: Ende des 19. Jahrhunderts war man in Palästina eine Stammesgesellschaft, eigene nationale Bestrebungen waren auch hier gerade erst im Werden, wobei niemand einen Staat Syrien oder Jordanien oder Libanon oder Palästina im Kopf hatte; diese Grenzen wurden später künstlich von westlichen Mächten gezogen. Man belächelte die Neuankömmlinge in ihrer westlichen Kleidung zunächst, und so mancher war auch ganz zufrieden: Die Neuen brachten ein bisschen Geld in die verarmte Region. Doch die Situation änderte sich sehr schnell, als die Strukturen, die sich die Juden gaben, deutlich sichtbar wurden. In diesen Jahren entstand erstmals das Gefühl, dass ein Konstrukt aufgezwungen werden sollte, das den Alteingesessenen völlig fremd war: Man begann, die Juden als Besatzer zu sehen. Es kam zu jenen Gewaltausbrüchen, die die kommenden Jahrzehnte bestimmen sollten.

Für die britische Regierung, die ab 1917 die Region kontrollierte, war dies eine schwierige Situation, die man gleichzeitig aber mit befeuerte: 1917 hatte man in der Balfour Declaration den Juden eine Heimstatt zugesagt und damit für Wut bei den Arabern gesorgt, die den Briten im Laufe der Zeit immer wieder vorwarfen, die Zionisten zu bevorzugen. Die britische Regierung reagierte darauf, indem sie versuchte, die Alijot zu verbieten oder wenigstens einzuschränken. Tausende wurden in Zypern interniert und teilweise auch nach Europa zurückgeschickt, während die zionistische Bewegung immer besser darin wurde, Juden nach Palästina zu schmuggeln. Ab den 40er Jahren belieferte man dann auch die in den Jahrzehnten zuvor entstandenen Nachbarstaaten mit Waffen, wohl wissend, dass diese an Milizen weitergereicht werden würden, die Anschläge auf jüdische Ortschaften verübten.

Dass Großbritannien Ende 1948 das Mandat beendete, lag vor allem daran, dass es keine Lösung mehr sah: Am 29. November 1947 hatten die Vereinten Nationen zwar einen Teilungsplan für Palästina angenommen; doch die arabischen Staaten hatten ihn abgelehnt. In der Folge nahmen die Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern stark zu. Um die Lage in der Region einigermaßen unter Kontrolle zu halten, hatten die Briten bereits zuvor einen erheblichen Teil ihrer Polizei- und Militärkräfte nach Palästina verlegt; nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Kosten dafür schlicht nicht mehr aufzubringen.

Und so holte Hochkommissar Alan Cunningham am Nachmittag des 14. Mai 1948 im Hafen von Haifa die britische Fahne ein, bevor er als letzter Vertreter der britischen Regierung ein Schiff bestieg, während Leah Kristal und Mahmud Husseini vor den Radios warteten: »Das war ziemlich absurd«, sagt Husseini, »weil wir alle kein Hebräisch konnten. Danach hat uns jemand übersetzt, was Ben Gurion gesagt hat.«

Die Sowjetunion und die USA erkannten Israel sehr schnell an, während Transjordanien, Syrien, Ägypten, Libanon und Irak Israel angriffen. Verzweifelt bemühte es sich, Waffen aufzutreiben, während Großbritannien dafür sorgte, dass der UNO-Sicherheitsrat am 29. Mai ein Waffenembargo verhängte. Dennoch lieferte die Tschechoslowakei Waffen. Ab Juli verzeichnete das israelische Militär dann Gebietsgewinne, bis man in der ersten Jahreshälfte 1949 begann, Waffenstillstände mit den arabischen Staaten zu unterzeichnen. Das Westjordanland und Ost-Jerusalem befanden sich danach unter jordanischer Kontrolle, der Gazastreifen fiel an Ägypten, die Golanhöhen gehörten zu Syrien.

Bis zu 80 Prozent der Araber im neuen Israel waren zu diesem Zeitpunkt geflohen oder aus ihren Häusern vertrieben worden; die Umstände sind unter Historikern bis heute heftig umstritten. Sicher ist, dass Angst eine erhebliche Rolle gespielt haben dürfte: Am 9. April 1948 hatten Kämpfer der Terrormilizen Irgun und Lehi, die sich beide von der offiziellen paramilitärischen Organisation der Zionisten Haganah abgespalten hatten, in Deir Jassin außerhalb von Jerusalem 600 Menschen getötet. »Das hat damals sehr vielen Angst gemacht«, sagt Husseini, dessen eigene Familie blieb: »Meine Mutter war sehr krank; sie hätte eine Flucht nicht überlebt.«

Eine ziemlich unbekannte Fußnote dieser Geschichte ist indes, dass ausgerechnet Iran während des Krieges Öl und Waren nach Israel lieferte und den Staat am 14. März 1950 offiziell anerkannte.

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