Moral ist eine große Versuchung der Linken

Jan Korte über Epochenbrüche, Herausforderungen an die Linke und seine Gedanken beim Fliegenfischen

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 10 Min.

Die politischen Geschäfte einer Fraktion im Bundestag zu führen, ist ein Job unterhalb der öffentlichen Wahrnehmung. Ist er so erfüllend, wie er wichtig ist?

Ich habe ein gut bestelltes Haus von meiner Vorgängerin Petra Sitte übernommen. Das machte es leichter. Diese Arbeit bringt erheblichen Aufwand, sie verschafft aber durchaus Einfluss im Parlamentsbetrieb.

Jan Korte

Jan Korte ist Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion im Bundestag. Politisch wird der 41-Jährige dem »Reformerflügel« zugerechnet, der im Forum Demokratischer Sozialismus organisiert ist. Doch in seiner Funktion ist er Teil der Struktur, die in der Doppelspitze von Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch den Kompromiss zwischen den Flügeln der Partei repräsentiert. Dieses »Hufeisen«, von dem dabei auch die Rede ist, haben 25 Abgeordnete vom linken Flügel unlängst in einem Offenen Brief in Frage gestellt.

Der PGF, der Parlamentarische Geschäftsführer, kungelt mit den anderen Fraktionen Redezeiten und Tagesordnungen aus, oder?

Ich spreche gern vom Maschinenraum des Parlaments. Dort werden ständig die Abläufe verhandelt. Das Beste rauszuholen für meine Fraktion, das ist der Job, genau.

Wie frustrierend ist es, wenn die Fraktion sich dann nicht einig ist? 25 Abgeordnete haben sich in einem offenen Brief gegen Sahra Wagenknecht und damit gegen die Fraktionsführung gestellt. Da ist der Parlamentarische Geschäftsführer machtlos.

Konflikte sollte man in erster Linie intern lösen, nicht über offene Briefe. Als PGF bin ich loyal gegenüber meinen Fraktionsvorsitzenden. Und das mit bestem Gewissen, weil die einen exzellenten Job machen. Gleichzeitig muss man versuchen, auch die Kritiker einzubinden, sie zu beteiligen. Eine Gratwanderung. Als Geschäftsführer muss man mit allen können und macht sich zugleich dauernd unbeliebt.

Das sogenannte Hufeisenmodell, also die Zusammenführung einst zerstrittener Flügel in der Fraktionsspitze, hat die einst gespannte Lage befriedet, den Hass beendet, von dem Gregor Gysi 2012 sprach. Ist das Modell nun, 2018, gescheitert? Kehrt der Hass zurück?

Nein, das Modell ist nicht gescheitert. Weil es erfolgreich ist. Wir haben bei der Bundestagswahl mit Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch als Spitzenkandidaten zugelegt. Wir sind heute mehr Abgeordnete als zuvor. Was zeigt: Man kann trotz Differenzen gemeinsam Erfolg haben. Das ist der richtige Weg.

Streit ist ja immer auch Ausdruck inhaltlicher Differenzen. Ist denn die Flüchtlingsfrage, gemessen an den Aufgaben, vor denen die LINKE steht, so entscheidend? Warum diese Aufregung?

Dass die Flüchtlingspolitik kontrovers diskutiert wird, finde ich völlig normal, das beschäftigt die Leute ja auf jedem Marktplatz. Zur Info: Meine Fraktion hat bisher geschlossen keiner einzigen Verschärfung des Asylrechts zugestimmt. Darauf bin ich stolz. Folgenschwerer ist allerdings unsere Debatte über die Milieus, in denen die LINKE verankert sein muss. Weil die Linke, und damit meine ich nicht nur die Partei, vor einem Epochenbruch steht. Es ist noch nicht überall angekommen, was da gerade passiert. Das Ende des neoliberalen Zeitalters ist gekommen, und offen ist, in welcher Richtung es weitergeht. In vielen Ländern sehen wir einen neuen Faschismus auf dem Vormarsch.

Sie haben in einem Aufsatz kürzlich einen moralischen Rigorismus in Teilen der Linken kritisiert. Was ist damit gemeint?

Wenn es an Strategie mangelt, ist die Versuchung groß, dies durch Moral zu kompensieren. Doch das ist der falsche Ansatz. In der Flüchtlingsfrage braucht man eine klare Haltung: Das Grundrecht auf Asyl darf nicht angetastet, Menschen dürfen nicht schikaniert werden. Gleichzeitig dürfen wir nicht darüber hinwegsehen, was Menschen umtreibt, die schon mal ihr Kreuz bei uns gemacht haben und jetzt der AfD hinterherrennen. Ich meine nicht die, die ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben und die es seit Jahren gibt, wie wir dank Wilhelm Heitmeyer wissen.

Moralischen Rigorismus kann eine Linke schwerlich beklagen. Früher nannte man es Klassenstandpunkt.

Das ist aber nicht dasselbe. Wir registrieren eine sozialstrukturelle Veränderung in unserer Partei, wir sind in den großen Städten erfolgreich, haben Tausende von jungen neuen Mitgliedern, was absolut top ist. Gleichzeitig verlieren wir bei Arbeitern und Arbeitslosen und auf dem Land, das ist alles andere als gut. Logischerweise sind die Probleme der Leute in Berlin-Mitte andere als die von Leuten bei mir im Wahlkreis in Bitterfeld. Anderes Umfeld, andere Kultur, andere Geschichte. Wir brauchen beide Milieus, wohl wissend, dass sie im Alltag wenig miteinander zu tun haben. Eine LINKE aber, die von Arbeitern und Arbeitslosen, denen täglich Gewalt angetan wird in diesem Land, nicht mehr gewählt wird, die hat ein wirklich großes Problem. Denn für die haben wir uns gegründet.

Ob eine Partei zukunftsfähig ist, wird derzeit an Begriffen wie Globalisierung oder Digitalisierung gemessen. Das macht die Besinnung auf die alte Arbeiterklasse schwer.

Wer wie ich aufgewachsen ist mit Reisen quer durch Europa, der Freunde und Bekannte hat in allen möglichen Ländern, der verbindet tendenziell etwas Positives mit Europäisierung und Globalisierung. Ein Facharbeiter empfindet vielleicht eher eine Bedrohung seines gegenwärtigen Status’. Oder die Last geforderter Fremdsprachenkenntnisse. Den Unterschied zu erkennen, ist die Herausforderung für die LINKE. Das ist ihre soziale Verantwortung.

Viele sehen hier keinen Nachholbedarf. Bei jedem Wahlkampf, in jedem Papier habe man die soziale Frage in den Vordergrund gestellt, heißt es dann.

Natürlich haben wir in Wahlkämpfen die soziale Frage thematisiert, aber was bei den Leuten von den Plakaten ankommt, ist etwas anderes. Entscheidend ist der Bezug zu ihrem Alltag. Wie sprechen wir? Wie treten wir auf? Welche Themen stellen wir in den Vordergrund? Wir müssen Politik machen und leben, die den Bauch der Leute erreicht, nicht nur ihren Kopf.

Linke Wertmaßstäbe scheinen die westliche Gesellschaft inzwischen zu dominieren. Minderheitenrechte, Antirassismus, Feminismus, Gleichstellung. Ist die Linke nicht auf dem Vormarsch?

Das ist die Behauptung der Rechten. Wenn ich mir angucke, wieviel Frauen weniger als Männer verdienen, ihre unveränderte Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen bedenke oder die Zunahme von Antisemitismus, kann ich nicht allen Ernstes sagen, dass es eine linke, fortschrittliche Alltagsdominanz gibt. Allerdings hat die Linke seit 1968 in der Tat kulturelle Kämpfe gewonnen. Ihre Begriffe sind zum Teil in den Alltagsgebrauch übergegangen. Definitiv verloren haben wir aber die ökonomischen Kämpfe, und die Zäsur kam mit der Agenda 2010. Deshalb ist es kein Fetisch, auf Hartz IV herumzureiten, sondern die entscheidende Frage, um zu verstehen, was gerade passiert.

Hat die soziale Linke dem Neoliberalismus mit ihren Begriffen eine schöne Kulisse für den Sozialabbau verschafft?

Wir kennen diesen Diskurs von der amerikanischen Wissenschaftlerin Nancy Fraser. Ihre These ist, dass der Neoliberalismus sich gepaart hat mit berechtigten, notwendigen Anliegen der neuen Linken. Versinnbildlicht fand sie dies in Hillary Clinton. Fraser erklärt den Abwehrreflex von Menschen in abgehängten Gebieten gegenüber Minderheitenrechten oder Antirassismus damit, dass sie diese Themen bewusst oder unterbewusst mit der neoliberalen Epoche verbinden und sich selbst nicht beachtet fühlen.

Gleichzeitig setzen Linke Worte wie Enteignung auf den Index. Weil in der deutschen Geschichte Menschen aus rassistischen Gründen enteignet wurden. Kann man sich dem beugen?

Ich finde, Antifaschisten in Deutschland müssen immer antizipieren, wie Begriffe wahrgenommen werden können. Im konkreten Fall würde ich von Verstaatlichung reden. Wir wollen Verstaatlichung in vielen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge. Wobei öffentliche Daseinsvorsorge auch so ein Problembegriff ist. Da rennt jeder weg, wenn er das hört. Wir wollen die Bahn in staatlicher Handhabe, wir wollen die Energieversorgung, Bildung und Gesundheit in staatlicher Handhabe. Begriffe sind in Deutschland besonders zu hinterfragen und historisch einzuordnen. Das ist auch unsere Aufgabe als Linke.

Die Linkspartei ist nicht nur wegen ihrer Sprachprobleme in der Bredouille. Sondern auch, weil sich ihre Rolle in den letzten 28 Jahren verändert hat. Mit eigenem Ministerpräsidenten, mit Regierungsbeteiligungen lässt sich schlecht Oppositionskraft darstellen. Ist das ein auflösbarer Widerspruch?

Eine Partei links der SPD im Parteienspektrum der antikommunistisch geprägten Bundesrepublik zu etablieren, war eine historische Leistung. Und dass wir mit Bodo Ramelow einen Ministerpräsidenten stellen, kann nicht genug geschätzt werden. Der Widerspruch ist jedoch real. Ihn auszutarieren, daran führt kein Weg vorbei. Auf der Bundesebene müssen wir ganz klar die Partei sein, die es wagt, sich fundamental mit den wirklich Mächtigen anzulegen. Dieses Bild müssen wir genauso selbstbewusst transportieren wie die Erfolge unserer Berliner Senatoren, die einfach eine gute Arbeit machen. Wenn wir nicht selbstbewusst darüber reden, tut es keiner. Nur einen Fehler dürfen wir nicht machen: Zu glauben, dass Berlin die Bundesrepublik ist.

Das klingt wie ein Plädoyer gegen eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene.

Im Gegenteil, wir müssen um Regierungsverantwortung streiten. Warum? Die Leute in meinem Wahlkreis sagen, dass wir seit 1990 die Reichen besteuern wollen und es bis heute nicht durchgesetzt haben. Zum Beispiel deshalb. Über eine Regierungsbeteiligung können wir zeigen, dass es auch anders, schneller geht.

Dieses System grundlegend zu ändern, funktioniert über Regierungsbeteiligung?

Nein, nicht nur. Aber etwas zu bewegen, wo wir etwas bewegen können, das ist unsere Aufgabe. Allein in dieser noch kurzen Wahlperiode haben wir schon einiges bewirkt. Es war die LINKE im Bundestag, die Rekord-Waffenexporte thematisiert hat, die dafür gesorgt hat, dass die Ausschüsse vernünftig arbeiten, dass es überhaupt einen Ausschuss auch für Bauen und Wohnen gibt - eine der großen Herausforderungen in unserem Land. Dass es den Mindestlohn gibt und die Praxisgebühr nicht mehr, das haben wir erreicht. Da sage ich selbstkritisch: Vielleicht sollten wir mehr über unsere Erfolge reden.

Wenn keiner von der SPD in der Nähe ist. Die schreibt das alles sich zu.

Ach ja, die Sozen. Es macht einen schon fassungslos, wenn Olaf Scholz jetzt weitermacht, wo Wolfgang Schäuble aufgehört hat. Eine SPD, die von über 40 auf 20 Prozent halbiert wurde, ist nicht im Interesse der Linken. Aber ich sehe schwarz: Die SPD hat die Dramatik dieser Gesellschaft offenbar nicht ansatzweise begriffen.

Ist zu hoffen, dass der bevorstehende Parteitag die Dramatik der Lage bei der LINKEN auflöst?

Vom Parteitag erhoffe ich, dass er die wirklich historische Herausforderung, vor der wir stehen, erkennt und annimmt. Und ich wünsche mir, dass er in großer Verantwortung eine Führung wählt, in der alle relevanten Teile dieser Partei ordentlich vertreten sind. So, wie wir das im Vorstand der Bundestagsfraktion hinbekommen haben.

Mit der AfD im Bundestag sind die Möglichkeiten für die LINKE gesunken, sich als das Sprachrohr der Unzufriedenen zu präsentieren. Noch so ein Widerspruch.

Einerseits müssen wir natürlich um die Wähler kämpfen, die früher LINKE gewählt haben und dann zur AfD gegangen sind. Wir müssen sie zu einer neuen Abwägung über ihre Wahlentscheidung bringen. Wir können sie nicht einfach abschreiben, das wäre unpolitisch. Das Zweite ist der Umgang mit der AfD im Bundestag. Wir sollten nicht über jedes Stöckchen springen, denn Provokation ist das Geschäftsmodell der AfD. Und wir müssen die Punkte aufzeigen, bei denen ihre Argumentation besonders widersprüchlich ist. Entscheidend wäre es, als Bundestag gemeinsam vorzugehen, wenn Grenzen überschritten werden. Wenn Begriffe wie »entartet« fallen, dann muss volles Rohr dagegen gehalten werden. Das darf nicht zur Normalität werden.

Das wäre in der Situation ja zuerst eine Aufgabe des Präsidiums.

Das ist eine Aufgabe fürs Präsidium und alle anderen Fraktionen, in der Tat. Auch für Journalisten in ihrer Berichterstattung.

Zählt dies auch zu den Aufgaben eines Parlamentarischen Geschäftsführers? Guter Rat an Journalisten?

Die lassen sich sowieso nicht reinreden. Was ein PGF dagegen lernen sollte: Fliegenfischen.

Warum das?

Das ist nicht zu toppen bei der Stressverarbeitung.

Grübeln beim Fischen im Trüben?

Beim Angeln wird nicht gegrübelt. Höchstens: Werf ich hier hin oder da hin? Oder: Wie bereite ich den Fisch zu, den ich nachher im Laden kaufe?

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