• Kultur
  • Theaterinszenierung des Romans "Transit"

Verloren in der Mitte

»Transit« von Anna Seghers am Staatstheater Braunschweig

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Lob des Zwischenraums! Er bietet die einzig verlässliche Idee: das Unentschieden. Ähnlich dem Niemandsland - wo das einzig würdige Vertrauen wächst: ins offne Leere. Das Zuhause dagegen ist nur immer der Ort, wie Heiner Müller schrieb, »an dem die Rechnungen ankommen«. Wo auch die Quittungen bezahlt werden müssen. Für den Glauben, es gäbe Heimat als einen Stoff, der kein Ministerium nötig habe. Und für die Illusion, die Erträglichkeit der Dinge sei deren Tugend. Die reale Unerträglichkeit von Verhältnissen freilich ist keine lebbare Alternative, und so ist die Welt in eine seltsame, Unruhe schaffende Bewegung geraten: von Flüchtlingen zum Beispiel, allüberall auf dem Gelände der westlichen Welt. Aber Anlanden ist noch lange kein Ankommen, und Ankunft bedeutet nicht Gewähr einer Zukunft. Wie dichtete Thomas Brasch? »aber/ wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber/ wo ich sterbe, da will ich nicht hin:/ Bleiben will ich, wo ich nicht gewesen bin.« Transit-Poesie.

Transit ist ein Wort jener jetzt akuten Stunde Welt, die sich wohl bleibend ins Jahrhundert fräst. Anna Seghers’ gleichnamiger Roman reizt da naturgemäß zur Nach-Erzählung. In einem anderen Roman der Seghers heißt es: »Jetzt sind wir dran. Was jetzt geschieht, geschieht uns.« Ein Axthieb ins Bewusstsein: Die Räume, in denen wir leben, haben zwar Wände, aber alle Zeiten dringen da hindurch, mit ihrem Atem, ihrem Vermächtnis, ihrem einzig verbindlichen Versprechen: Kein Mensch bleibt verschont.

Christian Petzold hat das zur Grundgröße seines tief berührenden Films »Transit« gemacht. Alice Buddeberg hat den Stoff nun am Staatstheater Braunschweig inszeniert, in einer Fassung, die sie gemeinsam mit Dramaturgin Claudia Lowin schrieb (Bühne: Sandra Rosenstiel, Kostüme: Martina Küster).

Schauplatz Marseille. Wo sich auch viele deutsche Emigranten vor den Nazis retten wollen. Ehe sie Europa verlassen können, müssen sie einen zermürbenden Papierkrieg um die erforderlichen Papiere ausfechten. »Alles war nur vorübergehend, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder unser ganzes Leben.« Der Albtraum des Wartens.

Mit dem Manuskriptkoffer eines toten Schriftstellers beginnt ein Spiel der Verwirrungen, der Kreuzung von Schicksalen zwischen Freiheit und Fessel, zwischen Identität und deren Wechsel. Eine Frau zwischen mehreren Männern. Der Arzt, dem just Krankheit eine ganz neue Lebensenergie verleiht. Der zerhärtete Spanienkämpfer. Ein siebenköpfiges Ensemble in wechselnden Rollen - und in einer Aufführung, die sich weitgehend frontal verhält. Als hätte sie nur ein Stand-, kein Spielbein. Als trainierten Tote einen aufrechten Gang, und ihre Starre stütze sie. Als gelte es zu zeigen: Es gibt nicht nur diesen besagten aufrechten Gang, es gibt auch die Aufgerichtetheit der Salzsäure.

Unter solcher Prämisse, immer rampennah, wird jede noch so geringfügige Bewegung zum Fanal: Ich will ein Ereignis sein. Da eine Umarmung, da ein gebücktes Schleichen, da eine Sekunde beherzte Freude, da sogar ein ausgelassener Tanz, da eine Selbstfesselungs-Etüde mit zwei Hundeleinen, da ein Zusammensinken, das mit niedergeschlagenen Augen beginnt. Johannes Kienast, weißes T-Shirt, weiße Hose, als hätte der Sommer in diesem jungen Mann seine heiteren Segel gesetzt - er ist der Erzähler, der KZ-Entflohene, er ist Mittelpunkt und verharrt fast die gesamten hundert Minuten des Abends in der Mitte der Bühne, ein Zentrum der Verunsicherung. Was sollen Schritte, wo man nur immer die falsche Richtung einschlägt und die falschen Spuren hinterlässt? Der verlorene Mensch als Stand - aller Dinge.

Ganz anders war Kienast am Anfang erschienen, er war auf die Bühne gestürmt, ein aufgedrehter Bote des Mitteilungsdranges: »Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang an bis zu Ende.« Und er erzählt, atemlos; die Geschichte des Romans - ehe sie hörspielnahe Lektion wird - wirft sich auf uns wie ein Himmel, an dem die Wolken entlangrasen, ein Himmel, der Gewitter und Gebläu in einem ist. Der Mensch, gehetzt vom Wunsch, all das Erlebte klar und klärend loswerden zu können an andere. Der Mensch, gehetzt von der Sehnsucht, verstanden zu werden. Aber alles ist immer zu viel, um ganz erzählt zu werden. Und alles Mitgeteilte ist immer zu wenig, um sich wirklich verständlich zu machen. Auch jedes Erzählen ist nur Transit zwischen den Missverständnissen. Jedes Erzählen, jedes Gespräch, jedes Geständnis, jede Begegnung, jede Liebe - und auch jedes Gefühl, nun endlich am richtigen Ort zu sein.

Buddebergs spröde Inszenierung bittet nicht herein, sondern ruft, was sie zu sagen hat, gleichsam nach draußen. Sie beschwört das Erzählen, gibt aber vorwiegend Nachricht. Sie ist nicht Story, sie ist Plateau. Es regnet Papiere. Ist dies ein Bild für jenen Segen, etwas nicht Begreifbares wenigsten zu Dichtung werden zu lassen? Oder Zeichen für jenen elenden Schnee der Bürokratie, der alles einfrostet? Wohl beides. Und auf der leeren Bühne ein Stahlgerüst: ein Bootsskelett in Kenterstellung, behängt mit Rettungswesten, die später entfernt werden, so werden die nackten Stäbe zum Klettergerüst für Schauspieler, die im Vordergrund gerade abkömmlich sind. Das alles hält arg auf Distanz, und so kann die Aufführung dem Zauber inmitten der Tragödie, all der Märchenfarbe inmitten der Finsternis - dieses wiederentdeckte Juwel im Werk der Seghers! - nicht gerecht werden.

Aber der Denkstoff tut doch seine Wirkung: als Dolmetscher zwischen den zu vielen Fragen und den zu wenigen Antworten. Kunst verhindert nicht die schweren Erdklumpen unter den Schuhen der Menschen, die sich derzeit durch verschlammte, versandete, verminte Wege in irgend eine erhoffte Freiheit mühen - und doch kann sie beflügeln. Etwa den Gedanken, dass Transit ein schönes Tätigkeitswort sein könnte. Für den Traumanstoß: so lange fort zu sein, bis man hoffen kann, sich zu verlieren. Bis einem das Eigene fremd, das Fremde etwas eigener wird. Bis man also den, der man zu Hause ist, nicht mehr ohne weiteres versteht. Das wäre eine erstrebenswerte Heimkunft.

Lang hin noch, wenn man sich die Zustände anschaut. Volker Braun - der vor Jahrzehnten nach Motiven von Anna Seghers das Stück »Transit Europa« schrieb: »Die wir die Welt dieser ausgrenzenden Grausamkeit wählten, stehn in der Schuld aller Orte, die verloren sind.« Trauer. »Denn wir stehn bei den Siegern.« In Sattheit. Wo die Köpfe, damit das so bleibt, jeden Transit lieber meiden.

Nächste Vorstellungen: 30. Mai, 3. Juni

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