Schippchen für Schippchen

Die schwierige Rückkehr in den Beruf, dazu der normale Wahnsinn bei der Suche nach einem Kitaplatz inklusive Kindercasting und Telefonmarathon. Wie Eltern in Berlin nach Alternativen suchen

  • Celestine Hassenfratz
  • Lesedauer: 8 Min.

Der Tag, an dem Xenia Heisterkamp-Strauß beschließt, einen der weltweit größten Modehersteller zu verklagen, ist ein gewöhnlicher Montag im April. Ein wenig Regen, ein bisschen Sonne. Ihre Entscheidung aber, ist alles andere als normal. Es ist neun Uhr als die junge Frau die Verdi-Zentrale in Berlin betritt. Fest unter dem Arm hat sie einen Stapel Papier und die Hoffnung geklemmt, jetzt endlich Gehör zu finden. Sie ist entschlossen für ihr Recht einzutreten und das einzufordern was ihr zusteht: Gleichberechtigung.

Als die Diplom-Kauffrau vor eineinhalb Jahren Mutter wird, scheint ihr Glück eigentlich perfekt. Das Kind ist gesund, die Mutter auch, jetzt will sie die Elternzeit genießen. Vor dem Mutterschutz hat sie bereits zwei Jahre Elternzeit eingereicht, nach einem Jahr dann den Wiedereinstieg in Teilzeit beantragt. Bereits im Studium war sie für das Unternehmen tätig, hat ihre Diplomarbeit dort geschrieben, die letzten Jahre war sie als Führungskraft für 50 MitarbeiterInnen zuständig. Ihre Arbeit macht ihr Spaß. Die Antwort auf den Teilzeitantrag ist kurz und knapp und trifft Heisterkamp-Strauß wie einen Schlag: Die Führungsposition zukünftig als Teilzeitkraft auszuüben, sei nicht möglich, teilt der Arbeitgeber ihr mit.

Was Xenia Heisterkamp-Strauß erlebt, ist kein Einzelfall. Weltweit zählt Deutschland zu den Schlusslichtern, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Nur 21 Prozent aller Frauen in Deutschland glauben, dass es möglich ist eine Familie zu haben, ohne, dass es der Karriere schadet. Wenn Frauen studieren, reduziert es die Wahrscheinlichkeit noch einmal um ein Viertel, dass sie sich überhaupt für ein Kind entscheiden. Wie kann es sein, dass in einem Land, in dem Gleichberechtigung von Frauen und Männern gesetzlich geregelt ist, EU-Antidiskriminierungsrichtlinien gelten und Unternehmen in ihren Selbstverpflichtungen über die gleichberechtigte Teilhabe schreiben, Frauen beim Wiedereinstieg solche Steine in den Weg gelegt werden?

Ein Anruf an der Ruhr-Universität Bochum: Hier arbeitet Gesine Ahlzweig. Die Soziologin forscht zu Gleichstellung in Organisationen und weiß: »Wenn Unternehmer damit argumentieren, dass Führungsaufgaben nicht in Teilzeitpositionen zu besetzen sind, hat das nicht ausschließlich ökonomische Gründe. Die Zeit und Kosten, die verursacht werden, eine neue Fachkraft einzuarbeiten, sind mindestens so hoch, wie der Aufwand, eine Teilzeitstelle möglich zu machen.« Generell liegt der Anteil von Teilzeitbeschäftigten mit Führungsaufgaben bei elf Prozent in Deutschland, nur wenige Unternehmen trauen sich bisher, umzudenken und flexiblere Arbeitsmodelle zu wählen. Woran also liegt es, dass wir in Deutschland zwar Gesetze überwunden haben, die besagen, dass eine Frau ohne die Unterschrift des Mannes keine Waschmaschine kaufen darf (seit 1977 abgeschafft), offensichtlich im Berufsalltag jedoch noch immer riesige Differenzen zwischen den Geschlechtern in Einkommen und Verantwortung liegen?

»Wenn du für dich nicht kämpfst, macht es keiner«, davon ist Heisterkamp-Strauß überzeugt und beschließt, die Absage des Unternehmens nicht zu akzeptieren. Sie arbeitet einen mehrseitigen Businessplan aus, minutiös dokumentiert sie ihren Arbeitstag und zeigt auf, wie die Stelle auch in Teilzeit zu schaffen wäre. Sie bietet an, zusätzlich im Home Office tätig zu sein, sogar auf eine andere Position, mit ähnlichem Gehalt, zu wechseln. Das alles macht sie immer dann, wenn ihre kleine Tochter schläft, in der Elternzeit, die sie doch eigentlich genießen wollte. Mittlerweile bleiben bis zum geplanten Wiedereinstieg nur wenige Monate und die junge Mutter plagen noch viel größere Sorgen. Nicht nur, dass sie um ihren Job bangt, einen Betreuungsplatz für ihre Tochter hat sie auch nach monatelanger Suche noch immer nicht gefunden.

Deutschlandweit fehlen 300 000 Kitaplätze, allein in Berlin sollen es 10 000 sein. Ein Besuch in Berlin- Weißensee: Es ist Freitagabend. Im Familienzentrum haben 20 Erwachsene einen Stuhlkreis gebildet, um sie herum: Kinder mit Büchern und Bauklötzen, brabbelnd, krabbelnd, laufend, an der Brust, an der Flasche, auf Vätern, in Bäuchen, Ein- Zwei- sogar Dreijährige. Die Gruppe Menschen, die hier zusammengefunden hat, könnte unterschiedlicher nicht sein. Sie kommen aus Peru, den Niederlanden, Chile, Schwerin, sind Alt- und Neuberliner, die ein Problem vereint: Sie alle haben keinen Betreuungsplatz für ihr Kind, brauchen ihn aber dringend, weil sie in den Beruf zurück müssen oder wollen.

Auch Claudia Thinius sitzt mit im Kreis. Sie ist Projektmanagerin und hat mehr Glück als Xenia, denn ihr Arbeitgeber hat ihren Teilzeitantrag genehmigt. Zurück in den Job kann aber auch sie nur dann, wenn sie einen Betreuungsplatz für ihr Kind findet. Täglich drei Stunden, eineinhalb morgens, eineinhalb mittags, immer dann, wenn die kleine Tochter schlief, saß sie in den letzten Monaten am Telefon. Hat alle Kitas in Weißensee und Umgebung abtelefoniert, sich auf unzählige Listen setzen lassen und immer wieder nur Absagen erhalten. In Berlin gibt es kein zentrales Vergabesystem für Kitaplätze, die Eltern müssen sich bei den Kitas direkt bewerben. Die brechen unter dem Verwaltungsaufwand, den Wartelisten und den ständigen Anrufen der Eltern, bei jetzt schon knappem Personalstand und zu hohem Betreuungsschlüssel, zusammen. Schon seit Jahren warnen ErzieherInnen vor einer Kita-Platz-Krise. Jetzt ist sie eingetreten.

Neben Claudia sitzt Ineke Broerse, sie kommt aus den Niederlanden und ist vor zwei Jahren mit ihrem Mann nach Berlin gezogen. Die Künstlerin erinnert sich noch gut, als sie das erste Mal mit dem Thema Kitaplatzmangel konfrontiert wurde. »Ich lebte erst einige Tage hier, als mich auf der Straße beim Spaziergang mit meinem Sohn eine Frau ansprach. Ob ich denn nicht noch auf der Suche nach einem Kitaplatz sei, sie könne mir helfen und drückte mir ihre Visitenkarte in die Hand. Die Frau betreibt eine Agentur für Kitaplätze, man bezahlt und bekommt einen Platz.« Ineke ging mit der Visitenkarte in der Hand verwundert nach Hause und dachte nach. Dass es nicht so einfach werden würde einen Kitaplatz zu finden, hatte sie schon gehört, das Problem gibt es auch in den Niederlanden. Dass man nun aber sogar eine Agentur bezahlen solle, um überhaupt einen Platz zu bekommen, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Ineke beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, und begann ebenfalls zu telefonieren. Dann kam nach einigen Wochen die ersehnte Einladung zu einem Kennenlernabend in einer schönen Kita. Ineke kam mit Mann und Kind, endlich sollte sie persönlich mit jemandem sprechen können. Ihre Freude schrumpfte als sie den Raum betrat. Etwa 50 andere Elternpaare hatten bereits Platz genommen, auf kleinen Zwergenstühlen, zwischen Blumengirlanden und Puppenwägen. Auf dem Boden lagen Babys, spielend und schreiend auf Schaffellen, Mütter mit großen Bäuchen lehnten an den Wänden. Sie alle wollten den einen Platz, den die Einrichtung im kommenden Kitajahr anbieten konnte. Als Ineke ernüchtert am nächsten Morgen ihren Sohn im Kinderwagen durch Weißensee schob, fiel ihr ein Zettel ins Auge: Kinderladenneugründung sucht MitstreiterInnen. Sie zögerte nicht lange und schloss sich der Gruppe an, endlich konnte auch sie selbst etwas in die Hand nehmen.

Jetzt sitzt sie hier im Kreis mit Claudia. Auch Xenia ist gekommen, auch sie will endlich einen Kitaplatz für ihr Kind. In Berlin gibt es seit den 68ern eine lange Tradition der Kinderläden. Immer wieder haben Elterninitiativen als Gegenbewegung zu bestehenden pädagogischen Konzepten, oder aus der Not heraus, erfolgreich eigene Kinderläden gegründet. Hilfe bekommen sie dabei vom Dachverband der Berliner Kinder- und Schülerläden (DaKS) und von Tino Schopf. Er sitzt als Wahlkreisabgeordneter für die SPD im Abgeordnetenhaus in Berlin und ist an diesem Abend gekommen, um zu hören, was er tun kann. Schopf ist pragmatisch veranlagt und bietet der Gruppe direkt Hilfe bei der Immobiliensuche an. Er gibt zu, dass der Kitaplatzmangel ein riesiges Problem in Berlin ist. Auch hätte man vermutlich zu lange gewartet, mit dem Kitaausbau rechtzeitig zu beginnen. In den nächsten Jahren sollen 25 000 neue Kitaplätze geschaffen werden und temporär denke man darüber nach, den Betreuungsschlüssel, der erst letztes Jahr gesenkt wurde, wieder anzuheben, damit eine Erzieherin mehr Kinder betreuen kann. Bis es so weit ist, suchen die Eltern hier aber keine Kitaplätze mehr, sondern Grundschulen, wirft eine der Mütter empört ein. Der Abend in Weißensee endet mit einer Entscheidung: Ein Verein wird gegründet, der Kinderladen soll Panaka heißen, Ende des Jahres wollen sie eröffnen. »Panaka« bedeutet Gemeinschaft.

Gemeinsam wollen die Eltern hier das Problem angehen, und sind dabei doch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Denn auch, wenn das Projekt Erfolg hat, vielleicht sogar andere Eltern zum Nachmachen inspiriert, besteht das Problem fort und ist weit tiefer in der Gesellschaft verwurzelt als angenommen. »Politiker müssen endlich Unternehmen verpflichten, Betreuungsplätze zu schaffen«, sagt Claudia. »Ich fühle mich als Mutter und Führungskraft diskriminiert«, sagt Xenia. »Dass die Verantwortung für Arbeitszeitreduktion in Form von Teilzeit nur den Frauen zugeschoben wird, liegt an der Annahme, das sie es sein müssten, die die meiste Sorgearbeit für das Kind zu tragen haben«, sagt die Wissenschaftlerin Ahlzweig. »Heute sind die Frauen des Proletariats an der Reihe, ihre Reife dem kapitalistischen Staate zum Bewußtsein zu bringen«, schrieb Rosa Luxemburg 1912. Passieren kann das jedoch nur, wenn weiter Menschen wie Xenia, Claudia und Ineke für ihr Recht kämpfen, gleichberechtigt an Gesellschaft und Beruf teilhaben zu können. Und auch nur dann, wenn sie diesen Kampf nicht alleine kämpfen.

Es ist Mai in Weißensee. Xenia Heisterkamp-Strauß hat Klage eingereicht. Gemeinsam sitzt sie mit Ineke am Rand der Sandkiste auf einem Spielplatz, oben auf dem Baum tschirpt ein Spatz unbeirrt sein Lied. Unten in der Kiste buddeln Xenias Tochter und Inekes Sohn. Gemeinsam bauen die Kinder eine Sandburg. Immer höher, Schippchen für Schippchen.

Am 27. Mai findet in Berlin um 10 Uhr vor dem Brandenburger Tor eine große Demo zur Kita-Platz-Krise statt. Mehr Infos unter: kitakriseberlin.org

Die Autorin dieses Artikels wurde selbst Teil der Gründungsgruppe des Kinderladens, nachdem sie monatelang vergeblich einen Kitaplatz für ihre Tochter gesucht hatte.

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