Eine Sonnenbrille und nicht viel dahinter

Die Filmemacherin Agnès Varda wird 90. Wer ihr Werk kennenlernen will, sollte nicht mit ihrem letzten Film beginnen

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 6 Min.

JR ist ein grundsympathischer Mann. Weil der 33-Jährige, der abwechselnd in Paris und New York wohnt, ein Künstler ist, muss er, wo er geht und steht, sommers wie winters, ein Hipsterhütchen und eine Sonnenbrille tragen. Seine Kunst besteht darin, in städtischer Szenerie erzeugte Fotos vor Ort metergroß auf Fassaden zu kleistern.

Er spricht zum Beispiel mit einer Frau, die in einer Grubensiedlung wohnt, welche demnächst abgerissen wird. Die Frau, sie heißt Jeannine Carpentier, weigert sich, aus ihrem Bergarbeiterhäuschen auszuziehen. JR lässt ein Porträt von ihr an die Hausfassade kleben. Das Foto reicht vom Bürgersteig bis knapp unter den Dachfirst. Nun soll sich Frau Carpentier, ihrem haushohen Gesicht gegenüber, freuen, und sie tut es brav. Das ist in dem Film »Augenblicke. Gesichter einer Reise« zu sehen, den JR mit Agnès Varda gedreht hat.

In dem Film ist noch mehr dergleichen zu beobachten. JR klebt die Porträts der Mitarbeiter einer Fabrik, das eines Bauern, die von Dockarbeiterfrauen auf eine Wand, einen Stall oder auf Container. Das ist besitzanzeigend, gesprächsanregend, sicherlich demokratisch und auch irgendwie politisch und passt so recht in die Epoche der Selfies. Aber haben wir unsere Häuser, unsere Fabriken bereits erobert, wenn wir sie mit unseren Visagen dekorieren, die doch ohnehin eine wie die andere aussehen? Kunst kann an den Machtverhältnissen nicht viel ändern, aber müssen sie auch noch mit Identitätskitt stabilisiert werden?

Es lohnt sich nicht, über die Kunst des JR zu lange nachzudenken. Der linksliberalen »Libération« ist ausnahmsweise recht zu geben, wenn sie schreibt, »Augenblicke« sei eine »Wohlfühl-Doku«, hinter deren Fassade von guter Laune die Leere gähne. Damit könnte man das Werk den üblichen Kulturbürgern überlassen, hätte sich JR nicht mit Varda eine bemerkenswerte Reisegefährtin in seinen Hipsterbus geladen.

Völlig egal, womit und mit wem sich Varda ihren Lebensabend auflockert, es bleibt bestehen, dass sie einige der originellsten Filme des Jahrhunderts gedreht hat. Mit diesem Pfund wuchert auch die Dokumentation »Augenblicke«, die unter anderem ihr bekanntestes Werk, »Cleo - zwischen 5 und 7« (1961), zitiert. In diesem anderthalbstündigen Film über anderthalb Stunden im Leben einer jungen Frau, die fürchtet, sterben zu müssen, gibt es einen burlesken Stummfilm-im-Tonfilm: Der berühmte Regisseur Jean-Luc Godard nimmt seine berühmte Sonnenbrille ab und weint. Das muss an den grundsympathischen jungen Künstler JR erinnern, der weder seine Sonnenbrille abnehmen noch weinen will, was Varda beides fuchst (der Streit über seine Marotte ist der »running gag« von »Augenblicke« und wird am Ende mit einer flauen Pointe aufgelöst).

Mit dem zauberhaften »Pointe-Courte« (nebenbei das Debüt des Schauspielers Philippe Noiret) hat die Varda, wie Georges Sadoul schrieb, 1954 den ersten Film der »Nouvelle Vague« gedreht. Es ist aber ihre höchsteigene »Neue Welle«, denn von dem Zynismus Godards unterscheidet sie sich ebenso gründlich wie von der Bedächtigkeit Eric Rohmers oder von der kühlen Intellektualität eines Alain Resnais. Parallelen ergeben sich höchstens zu François Truffaut.

Wer außer ihren beiden bereits genannten frühen Spielfilmen auch »Das Glück« (1964) betrachtet, hat bereits ein Werk beisammen, das eher an einen Seiltanz als an Kino erinnert, von einer Akrobatik, Leichtigkeit und Verspieltheit, denen in den Filmen der Zeitgenossen wenig an die Seite zu stellen ist. Von Anfang an zeigt Varda, die zuerst Fotografin und kaum mit dem Kino vertraut ist, eine verblüffende Sicherheit - im Wandeln auf dem schmalsten Grat. Beispielsweise könnte »Das Glück« sowohl ein buntes Mozart-Musical, eine überkandidelte Rhapsodie auf die freie Liebe als auch eine ätzende Satire auf die Monstrosität des heterosexuellen Durchschnittsmannes sein. Das könnte der Film alles zugleich sein, ja, das soll er alles zugleich sein. Denn nichts wird vereindeutigt. Wer diesen Film lesen will, muss seine Widersprüche ertragen. Wie unbefangen und keck Varda darin mit Farbe und Montage umgeht, beeindruckt noch immer.

Vardas Problem, wenn sie eins hat, ist, dass ihr eher zu viel als zu wenig einfällt. Das gilt auch für ihre Essayfilme, die sich nie sklavisch dem gefundenen Material unterwerfen, also keine Dokumentationen, sondern Reaktionen sind. Man nehme ihre Reflexion auf das »Animalische« der eigenen Hand in »Die Sammler und die Sammlerin« (2000). Auch ihre Hand ist die einer Sammlerin, einer Aufleserin. Der Essay handelt von den armen Leuten, den Clochards, auch den Künstlern, die aufheben, was andere wegwerfen. Den Bildern und Sätzen dieser Wanderer über die Müllhalden des Kapitalismus stellt Varda bedeutende Gemälde gegenüber, allen voran die »Ährenleserinnen« (1854) von Jean-François Millet. In all seiner Verspieltheit ist dieser Film durch und durch marxistisch. Ich bezweifle, dass allzu viele Marxisten das wissen.

Gerade weil es sie zum Spielen drängt, grenzt sich Varda jeweils ein Spielfeld ab, sie setzt sich eine Grenze, wählt sich eine Methode. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist »Vogelfrei« (1985); Sandrine Bonnaire spielt eine junge Landstreicherin. Der Film hält einerseits die Bewegungen der Heldin in streng kalkulierten Fahrten fest und sprengt diese Bewegungen andererseits durch pseudodokumentarische Interviews mit Weggefährten (alles Laiendarsteller) auf. Das Stärkste ist, dass »Vogelfrei« eben kein »Roadmovie« ist, er stückelt nicht Episoden aneinander, sondern bewegt sich in dem Kreis, in dem die Heldin gefangen ist und sterben muss.

»Augenblicke« dagegen ist, wie könnte es anders sein, ein Roadmovie. Der Film fährt ziellos, eher zufällig durchs Land, addiert die Erlebnisse und die lächelnden Gesichter. Gäbe es nicht die vielen Rückbeziehungen auf frühere Filme Vardas - die sich, wie Jonathan Rosenbaum feststellt, ohnehin unentwegt aufeinander beziehen -, gäbe es überdies nicht die Begegnung mit der greisen Regisseurin selbst, die am 30. Mai 90 Jahre alt wird, es sollte einem oder einer um die Zeit leidtun, die er oder sie im Kino verbracht hat.

Ganz am Ende ziehen in JRs und Vardas Wohlfühlfilm doch noch dunkle Wolken auf, wenn auch nur kurz und nur über dem Genfersee, dem Refugium der Milliardäre. Dort wohnt Godard, der Kollege Vardas, die ihn mit ihrem grundsympathischen Gefährten JR besuchen will. Selbstverständlich hat sie sich vorher angemeldet. Aber als sie ankommen, sind die Türen von Godards Haus verriegelt. Er hat lediglich eine kryptische Botschaft ans Fenster geklemmt. Varda ist erkennbar verletzt von diesem abweisenden Verhalten. Godards Filme mag einer schätzen oder nicht (ich schätze sie nicht), aber das eine lässt sich dem Mann nicht nachsagen: Dass er grundsympathisch sei.

»Augenblicke. Gesichter einer Reise«, Frankreich 2017. Regie: JR, Agnès Varda. Drehbuch: JR, Agnès Varda. 89 Min. Ab 31. Mai in den Kinos.

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