»Endlich hört das Geschnipsel auf!«

Die Abschaffung der Lebensmittelkarten 1958 in der DDR bedeuteten das Ende der Nachkriegszeit. Von Jörg Roesler

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Krieg hatten sie die Menschen begleitet, ebenso in den Jahren nach 1945 - die Lebensmittelmarken. Neben Geld benötigte man Marken, wenn man im privaten oder von der Konsumgenossenschaft geführten Laden um die Ecke Butter, Eier, Wurst, Zucker oder Mehl kaufen wollte. Die Verkäuferinnen waren mit Scheren bewaffnet und schnitten entsprechend der vom Kunden geforderten Menge an Lebensmittel Teile aus der Karte aus. Seit 1948 konnten die Ostdeutschen aber auch ohne Lebensmittelmarken einkaufen - in den Läden der Handelsorganisation (HO), allerdings deutlich teurer. Weshalb weniger Verdienende sich einen Einkauf dort nur zu besonderen Anlässen, Familienfeiern etwa, leisten konnten. Im Osten Deutschland existierte das Kartensystem fast zwei Jahrzehnte. Dessen Abschaffung, davon waren die meisten DDR-Bürger überzeugt, wäre ein Signal für die Rückkehr zu Normalität, für das Ende der Nachkriegszeit. Die entsprechende Entscheidung fasste Ende Mai 1958 die Volkskammer »auf Vorschlag des ZK der SED, des Bundesvorstandes des FDGB und des Ministerrats der DDR in Übereinstimmung mit dem Demokratischen Block«, wie es in der Bekanntmachung hieß. Sie erfolgte vor allem aus politischen Gründen: Der V. Parteitag der SED stand unmittelbar bevor. Er sollte die »Hauptaufgabe« beschließen, den Sozialismus zum Siege zu führen und die Volkswirtschaft der DDR innerhalb weniger Jahre so weiter zu entwickeln, dass »die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung über das imperialistische System in Westdeutschland« bewiesen wird.

Dieses Ziel zu verkünden und gleichzeitig das Kartensystem beizubehalten, dass in der BRD bereits 1950 abgeschafft worden war, hätten die meisten DDR-Bewohner als Widerspruch empfunden. Die DDR-Medien machten entsprechend Stimmung: So berichteten Reporter der »Berliner Zeitung«: »Überall nur ein Thema. Berlin diskutierte - rechnete - und freute sich.« Besonders erfreut waren die Verkäuferinnen: »Endlich hört das Geschnipsel auf!«

Intern musste man allerdings zugeben, dass die Zustimmung zwar allgemein, von der behaupteten Begeisterung allerdings wenig zu spüren war. Der DDR-Bürger betrachtete - mit Blick auf Westdeutschland - die Abschaffung der Lebensmittelkarten als Voraussetzung des versprochenen Aufholens und Einholens des Westens im Bereich des Konsums. Unterschätzt wurden vom Bürger die ökonomischen Anstrengungen, die die DDR-Wirtschaft zu bewältigen hatte, um der zu erwarteten, nicht mehr durch das Kartensystem gebremsten, Nachfrage auf die nun nicht mehr rationierten Güter zu begegnen. Tatsächlich waren im Verlaufe der 1950er Jahre auf vielen Gebieten entsprechende wirtschaftliche Voraussetzungen geschaffen worden: Gegen Ende des Jahrzehnts überschritt der Verbrauch bei vielen Nahrungsmitteln wie Schweinefleisch, Eier und Butter bereits das Vorkriegsniveau. Bei Getreide, Ölfrüchten und Kartoffeln übertrafen die Hektarerträge in der zweiten Hälfte der 50er Jahre die der ersten. Hinzu kam: In der Sowjetunion hatte Parteichef Nikita S. Chruschtschow 1958 neben der Partei- auch die leitende Staatsfunktion übernommen. Er unterstützte Walter Ulbrichts »Auf- und Einholprogramm« gegenüber Westdeutschland - auch mit Lebensmittellieferungen und Krediten.

Neben den ökonomischen waren bei der Abschaffung der Lebensmittelkarten in der DDR soziale Probleme zu bewältigen. Das Preissystem im Einzelhandel musste neu gestaltet werden. Seit 1948 hatte es in der DDR für Lebensmittel ein doppeltes Preissystem gegeben: Relativ niedrige Preise für die Güter, die »auf Marken« gekauft wurden, deutlich höhere für dieselben Waren in der HO. Die Waren, die es auf Karte zu kaufen gab, waren vielfach subventioniert, womit Geringverdienern und Arbeitslosen, die es in der DDR bis Mitte der 50er Jahre noch gab, ein Mindestlebensstandard gesichert wurde. Die HO-Preise hatte dem Fiskus helfen sollen, die Verluste durch die Preisstützung des Kartensystems zu kompensieren oder wenigstens zu begrenzen. Da die neuen, nunmehr allgemeingültigen Lebensmittelpreise zwischen den bis dahin für HO-Waren und Kartenwaren üblichen lagen, erhielten Arbeiter und Angestellte mit einem Bruttoverdienst bis zu 800 Mark zum Ausgleich für ihre finanziellen Mehraufwendungen nach dem Wegfall der Lebensmittelkarten gestaffelte Zuschläge. Niedrige Einkommen wurden gegenüber mittleren und höheren begünstigt. Der Fahrer in einer MTS, Maschinen-Traktoren-Stationen, der 285 Mark Brutto verdiente, erhielt einen Zuschlag von 27 M, der Elektromaschinenbauer in einem Kraftwerk mit einem Bruttoverdienst von 513 M nur sieben Mark, während der Konstrukteur in einem Büromaschinenwerk mit einem Verdienst von 1100 M leer ausging.

Wenn die DDR bezüglich Wirtschaftskraft und Lebensstandard auch weiterhin hinter der BRD zurückblieb - im Bemühen um soziale Gerechtigkeit hatte sie schon 1958 die Nase eindeutig vorn.

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