Über Dosis

Theater so alt, so aufregend: Andrea Breth inszenierte »Eines langen Tages Reise in die Nacht« an der Wiener Burg

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Dies ist der gesunde Impuls, der jeden Morgen eröffnet: Der Mensch will die Wahrheit wissen. Aber will er sie auch wahrhaben? Das ist die Frage, wenn wir abends unsere Wunden zählen. Warum sind wir so gern störrisch, wenn es darum geht, Verpfuschungen des eigenen Lebens mit Klartext zu benennen? Ach, welche Erzlust es sein kann, tünchesüchtig gegen die Fehlfarben unserer Existenz zu sein. Erstaunlich, wie man von Schwäche so zehren kann, wie der Starke von seiner Stärke zehrt.

»Eines langen Tages Reise in die Nacht« von Eugene O’Neill, geschrieben 1939/40, ist eines der erbarmungslosesten Dramen der Moderne. Die Tyrones: Vater, Mutter, zwei Söhne - ein unendliches Reden über verlogene Karrieren, verschleppte Unglücke, krebsende Sucht und unheilbare Krankheit, über zerstörerischen Geiz und dieses »ganze verschissene Leben«. Irgendwann der bitterste Fluch: als Mensch geboren zu sein. Ein fortwährendes Wörtertreten auf der jeweils aufgerissensten Gemütsstelle des anderen. Leerlauf bis zur letzten leeren Flasche.

Am Burgtheater Wien inszenierte Andrea Breth das Stück (Bühne: Martin Zehetgruber). Sie ist die letzte aktive Klassikerin eines psychologisch fabulierenden Theaters, das mit gnadenloser wie begnadeter Genauigkeit das Dämonische der Seelen aufleuchten lässt. Aufleuchten lässt! - nicht bloßstellt, niedermacht, zerkaspert; kein Theater zudem, das in sozial-politischen Zurichtungen verarmt. Als O’Neill am Stück arbeitete, tobte Hitler durch Europa, der Dramatiker schrieb: »Fühlt man da nicht die Pflicht, seine Arbeit einer Hymne des Hasses zu widmen? Nun, obwohl ich den Nationalsozialismus so erbittert hasse, kann ich dies meiner Arbeit nicht antun.«

Das hat durchaus mit dem Theater der Andrea Breth zu tun: nur keine pädagogische Wallung, nur keine Dienstbarkeit für einen soziologisch, parteiisch genährten Idealismus. Stattdessen: ganz nah und behutsam am Menschen bleiben, dieser archaisch gesetzten Ursünde - deren Unbegreifbarkeit, in jedem Regime, unser wahres Kultur- und Unkulturerbe bildet.

So beginnt die Aufführung mit einer Off-Stimme, die naturalistisch bis ins Kleinste das strandnahe Wohn-Ambiente der Tyrones schildert - während die leere Bühne aber »nur« einen spitz ins Publikum ragenden Parkettboden zeigt, auf dem eine Wasserlache leckt, schwarze Vulkansteine kloben, Nebel wallt: Aufriss einer Natur ganz aus dunkler Phantasie. Das Privatissimo einer Familientragödie - umwoben von nahezu steinzeitlich weitgreifender Ursachenforschung. In Momenten des Selbstgesprächs oder einer besonders schmerzhaften Verlorenheit wird eine raffinierte Tonregie die Stimmen in bedrängende Hallräume versetzen. Tyrones Tropfsteinhöhle.

Menschen? Wracks, total auf dem Trockenen. Tyrone, der Schauspieler mit den versoffenen Shakespeare-Träumen, taumelt stier und berührungsscheu neben jenem entrückten Delirium, das noch immer seine Frau ist. Er und sie - zwei mühsame Experimente, noch ein wenig gerade zu stehen. Sohn James: Sein Praxissinn heißt Puff. Und Sohn Edmund? Schwindsüchtig, ebenfalls whiskyvoll. Beiläufig, lauernd neckisch steigert sich die Inszenierung in eine entfesselte Hysterie und zu besinnungslosen gegenseitigen Niederwerfungen.

Eines langen Tages Reise in die Nacht. Aber eben keine Menschenreise. Menschenreisen setzen voraus, dass sich in der Dämmerzone des eigenen Gefühls eine Hoffnung rekelt: Hinter der nächsten Ecke wohnt vielleicht das Wunder. Deshalb reisen wir ja, deshalb setzen wir uns in Bewegung: weil jedes Zuhause immer auch eine Villa Verfolgungswahn ist, der man mitunter entrinnen möge. O’Neills Figuren sind keine Reisenden mehr. Sie sind am Ziel. Sie haben die Technik endgültig raus: wie man jedes noch so banale Wort, jedes noch so alltägliche Thema, jeden noch so nebensächlichen Gegenstand für die Selbstzerstörung nutzt.

Aber: Selbstzerstörung mit einem fürchterlichen Bedürfnis nach Aufschub des Todes. Immer nur so viel Verwesung, dass es zum Weiterleben reicht. Schauspielerisch wird hier gleichsam ein Star-Aufgebot verlangt. Andrea Breths großartiges Ensemble verwandelt jede Szene in eine schleifsteinglühende Werkstatt für Schlachtmesser. Jedes Gespräch wird zur Feindberührung - wer in die tiefen kalten Wasser einer Seele springt, dem spritzen unwillkürlich böse Sarkasmustropfen aus den sommerhellen Klamotten. Manchmal ist dies alles sogar zum Lachen.

Corinna Kirchhoff ist die drogensüchtige Mutter. Kirchhoff taucht ihren getragenen Edelschwung, den unnachahmlichen Manierismus ihrer elegischen Eleganz tief ins Giftgirren dieser Mary. Wie eine Volltrunkene, die bei der Verkehrskontrolle die perfekt balancierende Seiltänzerin gibt, so müht sich diese Frau um Ahnungslosigkeit und Einspruch, wenn wieder mal jemand aus der Familie eine Andeutung ihres entsetzlichen Zustandes versucht. Die Kirchhoff schnattert, wird schnutig, sie greint und übersteuert; sie schafft einen bedrückenden Rhythmus zwischen pathetisch aufgekratzter Konversation und brüchig werdendem Sprachfluss. Gepresste Lippen wie Guillotinen - die jedes Wort zerhacken, das nicht Lebenslüge werden will.

James Tyrone ist bei Sven-Eric Bechtolf absolute Leere, ist ein fleischloses Nichts, ist Unbeholfenheit nah an der Tattrigkeit. Ein zeigefingerschwingendes Charaktergespenst, das an der kalten Zigarre hängt - grandios, wie Bechtolf die Aufweichung eines Menschen erzählt, wie er alle Präsenz einsetzt, um nicht präsent zu sein. James Tyrone jr. wird von Alexander Fehling gespielt: ein festbeiniger Zyniker, ein selbstgefälliger Schatten, ein depressiver Scheinrebell. Er ist der ältere Bruder des schwindsüchtigen Edmund: August Diehl wie der letzte wirklich Leidende dieser Welt, ein gehetzt bleicher, ein ortlos träumender Junge mit Nietzsche im Kopf.

Diehl kultiviert mit seiner elegischen Müdigkeit die Überlegenheit des Unterlegenen. Ist besessen vor Auslöschungslust und wartet doch darauf, dass die Welt barmherzig über ihn weinen möge. Die Welt weint nicht. Wenn er gegenüber seinem blöde gaffenden Vater Baudelaire zitiert, dann wächst Poesie wie eine Hornhaut über die Szene: Jedes Wort schreit, weil das Entscheidende erneut ungesagt bleiben wird. Wenn Diehl schluchzt, dann ist es, als ließe da einer mitten im Winter seinen Rotz und sein Wasser zu Geschmeide frieren. Andrea Wenzl gibt ruppig das Dienstmädchen - ein plebejischer Widerpart, der sich seiner Ohnmacht bewusst ist, aber zu würdevollen Sekunden findet: Diese Cathleen spricht vom Teint der vermeintlich Feinen, indem sie prononciert »Teng« sagt.

Ein Abend übers Leben mit der Überdosis. Er ist anstrengend. Wunderbar. Andrea Breths Kunst ist beglückend uraltes Theater. Wunderbar. Ist schweres Gerät. Gegen diese Weltbeholfenheit, mit der wir durch den Tag jagen: alles rasch erfassen, alles sofort erkennen, alles stempelschnell beleumunden. Auch Breth ist Überdosis. Überdosis Ausführlichkeit. Überdosis Rätsel. Überdosis Innenschau. Aura ist nicht, sie kommt nicht - sie sickert. Das hat sie vom Blut gelernt, das sich gegen Verdünnung wehrt.

Kürzlich, in einer Friedhofsserie des Berliner Fotografen Robert Michel, sah ich ein Bild mit Grabspruch: »... und Euch voran tret ich ins All zurück.« So treten hier die Gestalten ab. Treten still und langsam in den Duster. Oder kommen von dort. Kosmos und Familie. Wie allein ist jeder mit dem, was er wirklich sein will? In welchem Maße ist Nähe zu einem anderen Menschen wahrhaft - Nähe? Alle Liebe nur eine Stammesgeschichte der Vortäuschungen? Vielleicht. »Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.« Sagt Büchner. Sagen auch Breth und ihre Spielgarde.

Jetzt dreht sich die Bühne. Nacht unterm Nebel. Die Tyrones lungern ermattet im Weltengrund. Oder halb im Wasser. Mary tapert und tappt uneinholbar im hinteren Dämmer. August Diehl liegt ganz vorn, an einen Stein gelehnt. Sein Gesicht, weißhell im Licht, wirkt wie ein Totenschädel - dem man zur Tarnung das Fleisch gelassen hat. Das lang gestreckte Skelett eines gigantischen Tieres - Wal? Dinosaurier? - dreht sich herein. Eiszeit? Alles, alle nur Strandgut? Eine Gattung am Ende? Oder an einem neuen Anfang? Beckett trifft Breth. Diehls lebender Leichenschädel lächelt: Denn die Toten wissen, was wir lebend Abgestorbenen - auch morgen wieder - nicht wahrhaben wollen.

Nächste Vorstellungen: 16. und 17. Juni

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