Kapitalflucht aus Osteuropa

  • Hannes Hofbauer
  • Lesedauer: 2 Min.

Das »Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche« unterzieht Jahr für Jahr die Entwicklung in Osteuropa einer Studie. Die aktuelle macht auf herausstechende Tendenzen aufmerksam: Zwischen 2016 und 2017 sanken die Zuflüsse aus ausländischen Direktinvestitionen in den 22 osteuropäischen Staaten (inklusive Russland, der Ukraine und der Türkei) um durchschnittlich 25 Prozent, bei den elf EU-Mitgliedern waren es 20 Prozent, in der Türkei ebenfalls 20 Prozent und in Russland 33 Prozent. Wer nun glaubt, dies hätte einen Zusammenbruch der nationalen Ökonomien zur Folge, der irrt.

Zum Beispiel Polen. Dort halbierten sich die ins Land fließenden ausländischen Investitionen seit 2015 und die Wirtschaft boomt. Das hat zum einen damit zu tun, dass der größte private Kapitalabzug von staatlichen Institutionen aufgefangen wurde. Die italienische UniCredit-Bank verkaufte ihre Anteile an der Pekoa-Bank an die staatliche Versicherungsgesellschaft PZU und den ebenfalls staatlichen Entwicklungsfonds PFR. Damit ist der polnische Bankensektor wieder in erheblichem Maße staatlich. Zum anderen wurzelt die gute wirtschaftliche Lage in Polen in einem enormen Aufschwung der Baubranche, die großteils mit heimischem Geld operiert und den ausländischen Kapitalabfluss kompensiert.

Importsubstitution lautet die wirtschaftliche Antwort Russlands auf die seit April 2014 in Kraft befindlichen EU- und US-Sanktionen. Dies erklärt, warum eine ausländische Investitionslücke von 33 Prozent die russische Wirtschaft - trotz Problemen - nicht in die Knie zwingen kann. Der Terminus Nationalökonomie gewinnt in der ganzen Region (und darüber hinaus) wieder an Bedeutung.

Woran es neuerdings in den meisten osteuropäischen Ländern mangelt, sind Fachkräfte. Im Zuge der EU-europäischen »ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit« sind Millionen von BaltInnen, PolInnen und andere OsteuropäerInnen in den Westen migriert. Die fehlen nun zu Hause. Als Reaktion auf diesen Arbeitskräftemangel gab es in den vergangenen Monaten vor allem in der Automobilindustrie beträchtliche Lohnerhöhungen. Vor Jahresfrist brachte ein kurzer Streik bei VW in Bratislava 14 Prozent mehr auf dem Lohnzettel, im tschechischen Mlada Boleslav (Skoda) brauchte es für zwölf Prozent Lohnerhöhung nicht einmal einen Ausstand.

Diese für große Investoren gefährliche - weil teure - Entwicklung hat auch die Weltbank bereits erkannt und empfiehlt den Staaten, billige Arbeitskräfte aus der Ukraine zu importieren. In Polen werken auf dieser Basis bereits zwei Millionen UkrainerInnen vor allem in der Bauwirtschaft. Die Slowakei erließ erst kürzlich ein Gesetz, das denselben Effekt erzielen soll. Soziale Divergenz, die für die Struktur der Europäischen Union bestimmend ist, wird durch die Erweiterung des Arbeitsmarktes in Richtung Ukraine für Unternehmen nutzbar gemacht. Der durchschnittliche ukrainische Bruttolohn liegt bei umgerechnet 230 Euro, in Polen bei 950 Euro.

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