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Diplomatischer Streit auf Flüchtlingskosten

Italien und Malta verweigern einem Rettungsschiff mit 629 Geflüchteten einen Hafen - Spanien springt ein

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Ende gab es ein vorsichtiges Aufatmen: Nach einem tagelangen diplomatischen Machtkampf erklärte sich am Montagnachmittag Spanien bereit, über 600 im Mittelmeer gerettete Flüchtlinge aufzunehmen. Das Schiff Aquarius der Hilfsorganisationen SOS Mediterranée und Ärzte ohne Grenzen dürfe im Hafen von Valencia an der Ostküste Spaniens anlegen, »um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern«. Das hatte Spaniens neuer Regierungschef Pedro Sánchez angekündigt. Bis zum Redaktionsschluss gab es seitens der Schiffscrew noch keine Bestätigung des Angebotes.

Die Aquarius hatte vollkommen überladen seit dem Wochenende auf dem Mittelmeer ausgeharrt. 35 Meilen von der italienischen Küste und 27 Meilen von der maltesischen entfernt, wartete die Crew auf die Nennung eines sicheren Zielhafens durch die koordinierende Seenotleitstelle in Rom. Die Regierungen von Malta - und erstmals auch von Italien - verweigerten, einen solchen zur Verfügung zu stellen. »Es ist eine heikle Situation«, berichtete die sich an Bord befindende Journalistin Anelise Borges.

Auf dem für rund 500 Menschen ausgelegten Schiff befinden sich insgesamt 629 Flüchtlinge. Unter ihnen sind nach Angaben der Rettungsorganisationen 15 Menschen mit Verätzungen, 123 unbegleitete Minderjährige, elf Kinder sowie sieben schwangere Frauen. »Wir haben nur noch Versorgung für einen Tag«, warnte Verena Papke, die Sprecherin von SOS Mediterranée am Montag gegenüber »nd«. Man klärte nach dem Maschinenstopp die Geflüchteten langsam über ihre Lage auf. »Wir versuchen, relativ transparent zu sein.« Laut Borges sind die Kinder und Frauen müde und erschöpft, einige klagen über Dehydrierung.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatte die Aquarius 229 Flüchtlinge in einem dramatischen Einsatz gerettet. Nach Angaben von SOS Mediterranée war eines der zwei Schlauchboote der Schutzsuchenden in der Dunkelheit auseinandergebrochen, 40 Geflüchtete fielen ins Wasser. Nachdem man die Menschen sicher an Bord gebracht hatte, übergab die italienische Marine und Küstenwache 400 weitere gerettete Schutzsuchende dem Schiff.

Als die Crew daraufhin bei der koordinierenden Seenotleitstelle in Rom - wie bisher auch - um die Nennung eines sicheren Zielhafens bat, hieß es von dort nur, man solle warten. Der neue italienische Innenminister und stellvertretende Ministerpräsident Matteo Salvini von der rechtsradikalen Lega sagte stattdessen in sozialen Netzwerken, Flüchtlingsschiffe nicht mehr in die Häfen seines Landes zu lassen. »Von heute an wird auch Italien Nein zum Menschenhandel, Nein zum Geschäft der illegalen Einwanderung sagen«, so der Minister.

Salvini führte aus: »Im Mittelmeer gibt es Schiffe unter niederländischer, spanischer und britischer Flagge, deutsche und spanische Nichtregierungsorganisationen, und da ist Malta, das niemanden aufnimmt.« Frankreich weise Migranten an der Grenze zurück, Spanien verteidige seine Grenzen mit Waffen. Nun werde auch Italien seine Häfen schließen.

Maltas Regierungschef Joseph Muscat erklärte am Sonntag, dass man auch dort das Schiff nicht anlegen lasse. Malta verhalte sich entsprechend seiner »internationalen Verpflichtungen«. Da Rom die Such- und Rettungseinsätze koordiniert habe, sei es zuständig.

Der italienische Regierungschef Giuseppe Conte konterte, dass dies zum wiederholten Male den Unwillen von Malta und damit auch von Europa zeige, »einzuschreiten und sich des Notstands anzunehmen«.

Der anhaltende diplomatische Schlagabtausch sorgt bei SOS Mediterranée für Unverständnis. »Wir werden zum Spielball der Politik«, sagte Papke. »Die italienische Küstenwache selbst hat uns den Großteil der Flüchtlinge überbracht, will jetzt aber keine Verantwortung übernehmen.« Das sei »ein Stück weit absurd«.

Die Bürgermeister von Neapel und Palermo hatten aus Protest am Sonntag ihre Städte zur Anlandung der Aquarius und zur Aufnahme der Flüchtlinge bereit erklärt. SOS Mediterranée wollte jedoch nichts eigenmächtig ohne die Aufforderung der italienischen Seenotleitstelle entscheiden. Seitdem italienische Behörden verstärkt mit Beschlagnahmungen, Verhören und Ermittlungen gegen Seenotretter vorgehen, sind diese auf Vorsicht bedacht.

Zahlreiche Organisationen kritisierten das italienische und maltesische Vorgehen. »Es kann nicht sein, dass die Politik wiederholt über das Leben von Menschen gestellt wird«, erklärte Ärzte ohne Grenzen in einer Stellungnahme. »Die Verzögerung der Ausschiffung setzt diese verletzlichen Menschen zusätzlichen Risiken aus«, fügte die Sprecherin der Hilfsorganisation in Deutschland, Daniela Zinser, gegenüber »nd« hinzu.

Die EU-Kommission rief zur einer Beilegung des Streits auf. Ein Kommissionssprecher bezeichnete es als »eine humanitäre Notwendigkeit«, dass die Menschen an Bord der Aquarius an Land gebracht und versorgt würden. Die Bundesregierung brachte ebenfalls ihre Besorgnis zum Ausdruck. Regierungssprecher Steffen Seibert rief alle Beteiligten auf, »ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu werden«. Weder die EU-Kommission noch die Bundesregierung boten jedoch konkrete Hilfe an oder machten Angaben zur Zuständigkeit.

»Es besteht ein dringendes humanitäres Gebot«, betonte Vincent Cochel, der Sondergesandte des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR. »Die Menschen sind in Bedrängnis, ihnen gehen die Lebensmittel aus und sie brauchen schnell Hilfe.« Weitere Fragen wie Verantwortlichkeit und Zuständigkeiten zwischen den Staaten sollten später behandelt werden.

Angesichts der jüngsten Entwicklungen zeigten sich auch andere Rettungsorganisationen besorgt. »Es ist völlig inakzeptabel, das hier Politik auf dem Rücken von Menschen in Seenot gemacht wird«, erklärte der Sea-Watch-Vorsitzende und Einsatzleiter der aktuellen Mission der Sea-Watch 3, Johannes Bayer. Italienische Behörden hielten das Schiff nach einer Rettung mit 232 Menschen am Wochenende stundenlang fest. Seit Montag befindet es sich wieder im Einsatz. Ob es bei einer erneuten Rettung einen sicheren Hafen geben wird, ist momentan ungewiss. »Unser Schiff könnte schon heute in eine ähnliche Situation kommen.«

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