Argentinien vor neuem Abtreibungsgesetz

Knappe Parlamentsmehrheit für Liberalisierung

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 3 Min.

129 Abgeordnete votierten am Ende mit Ja, 125 mit Nein - bei einer Enthaltung. Vorausgegangen war eine 23-stündige, mitunter hitzig und polemisch geführte Debatte. Pro und Contra gingen dabei quer durch die Parteien. Jetzt muss der Senat entscheiden. Vor dem Kongressgebäude jubelten die BefürworterInnen einer Liberalisierung, während die GegnerInnen zwischen Schweigen und Pfiffen schwankten. Die ganze Nacht über hielten beide Seiten Mahnwachen ab. Trotz winterlicher Kälte waren zeitweise Zehntausende auf den Straßen rund um das Kongressgebäude unterwegs. Rund drei Viertel zeigten mit grünen Halstüchern ihre Zustimmung. Knapp ein Viertel dokumentierte mit hellblauen Halstüchern die Ablehnung. Die Polizei hatte mit Absperrgittern einen neutralen Korridor eingerichtet. Doch abgesehen von einigen Verbalattacken verlief die Nacht friedlich.

»Argentinien ist noch immer tief von der katholischen Sexualmoral geprägt«, sagt Marcelo Flugsman, das grüne Halstuch um den Arm gebunden. In Europa seien die Liberalisierungsdebatten vor 30, 40 Jahren gelaufen, so der 62-jährige Rentner. »Unsere Gesellschaft muss da noch durch.« Die intensive Diskussion der letzten Wochen habe das ganze Land sensibilisiert; die Stimmung in der Gesellschaft habe sich eindeutig in Richtung Liberalisierung gedreht. »Hier, die vielen jungen Menschen, das ist nicht mehr aufzuhalten.«

Auf der anderen Seite der neutralen Zone ist der Andrang weniger groß, doch auch hier sind überwiegend junge Erwachsene vor die Bühne gekommen. Dort wird unermüdlich der Schutz des ungeborenen Lebens gefordert, das unmittelbar nach dem Zeugungsakt entstehe. Deshalb, so die Ansagerin, sei jede Abtreibung ein Mord mehr. Damit wird jede Frau, die abtreiben will, als potenzielle Mörderin abgestempelt. »Ich bin hier, um das Leben zu verteidigen«, sagt Sofia Camilla. Die 18-jährige Mathematikstudentin an der katholischen Universität Fasta ist zuversichtlich, dass das Gesetz spätestens im Senat gestoppt werden wird. Davon ist auch Gonzalo Sanchez von der Frente Joven (Junge Front) überzeugt.

Das Gesetz richte sich gegen die Schwächsten der Gesellschaft und helfe den Frauen in keiner Weise, so der 22-Jährige, der an der katholischen Universität UCA Geschichte studiert. Seine sich weltlich gebende Jugendorganisation hat sich mit über 130 konservativen und religiösen Gruppierungen zur Unidad Provida, der argentinische Variante der aus den USA kommenden konservativen Pro-Life-Bewegung, vereint. Sie organisiert die Proteste gegen die Liberalisierung. Sollte auch der Senat zustimmen, könnte künftig jede Frau während der ersten 14 Wochen der Schwangerschaft selbst über einen Abbruch entscheiden. Danach wäre eine Abtreibung im Fall einer Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben der Frau und bei schwerwiegenden Missbildungen beim Fötus erlaubt. Heute ist ein Abbruch nur in zwei Ausnahmefällen erlaubt: Wenn das Leben der Frau bedroht ist oder wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. Jeder andere Abbruch kann mit bis zu vier Jahren Haft bestraft werden. Kommentar S. 4

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