nd-aktuell.de / 15.06.2018 / Politik / Seite 7

Multilateralismus ist keine magische Waffe

Achim Steiner, Leiter des UN-Entwicklungsprogramms UNDP, sieht die Nationalstaaten in der Verantwortung

Martin Ling

Es ist keine steile These: »Konfliktherde entstehen letztlich als Konsequenz des Scheiterns von Entwicklung.« Formuliert wurde sie von Achim Steiner, Leiter des UN-Entwicklungsprogramms UNDP beim Pressegespräch am 14. Juni zu den Themen Fluchtursachen, gewalttätiger Extremismus und was das UNDP weltweit dagegen tun kann. Eingeladen hatte die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen.

Den Unterschied zwischen vorbeugendem Handeln und Unterlassen machte Steiner, der der höchstrangige Deutsche im System der Vereinten Nationen ist, an zwei Beispielen aus der jüngeren Vergangenheit klar. 2017 sei es der UNO erfolgreich gelungen, genügend Mittel bei den Geberstaaten zu mobilisieren, um Hungerkatastrophen in Jemen, in Nigeria, Somalia und Südsudan vorzubeugen. »Das, was nicht geschehen ist, nimmt man nicht wahr.« Gemeint ist eine Hungersnot, die im Gegensatz zu 1984 in Äthiopien dieses Mal ausblieb, obwohl 20 Millionen Menschen von der Dürre betroffen waren und Hilfe benötigten.

Das Gegenbeispiel sei die Flüchtlingskrise ab Mitte 2015. Trotz Appellen der UNO wären nicht genügend Mittel für Schulen, Gesundheitsstationen und Nahrungsmittel in den Flüchtlingslagern bereitgestellt worden, sodass die Perspektivlosigkeit viele Familien neuerlich in die Flucht getrieben hätten.

Steiner teilt den Ansatz des UNO-Generalsekretärs António Guterres, Krisen möglichst frühzeitig zu erkennen und ihnen mit vorbeugender Entwicklungszusammenarbeit zu begegnen. Für oft unterbelichtet in der öffentlichen Wahrnehmung hält der ehemalige Exekutivdirektor des UN-Umweltprogramms den Zusammenhang zwischen internationaler Sicherheits- und Flüchtlingspolitik auf der einen und Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit auf der anderen Seite. 2018 würden internationale Konflikte weit über der »Normalität« stattfinden, eine Einschätzung, die dem Friedensgutachten 2017 der deutschen Friedensforschungsinstitute entspricht. Und die daraus resultierenden Folgen »manifestieren sich vor der eigenen Haustür«. Ein Sinnbild für das Scheitern der EU-Flüchtlingspolitik sei die »Aquarius«. »Die EU-Staaten sind im Mittelmeer nicht in der Lage, Probleme gemeinsam zu bewältigen.«

Steiner sieht nicht den Multilateralismus gescheitert, weder auf Ebene der UNO noch in der EU, aber in der Krise sieht er ihn schon: 70 Jahre Normen und Regeln, die seit Gründung der Vereinten Nationen (UN) etabliert wurden, würden derzeit hinterfragt, nicht nur in den USA in der Ära Trump, sondern auch in Asien, Europa und in Teilen der Bevölkerung.

Ein Beispiel für die Schwäche des Multilateralismus sei die jüngste Geberkonferenz zu Syrien, die weit hinter den Erwartungen zurückblieb, wobei Steiner die deutsche Bundesregierung ausdrücklich für ihre Mittelzusagen lobte. »Sobald der Druck in der Tagespolitik abnimmt, lehnen sich die Politiker ein Stück weit zurück«, schildert er seinen Eindruck. Dabei seien die Türkei, Libanon und Jordanien derzeit an der Grenze ihrer Belastungsfähigkeit angekommen, was die Versorgung der syrischen Flüchtlinge angehe. In Libanon und Jordanien sei fast jeder fünfte Bewohner ein Flüchtling. »In der EU wird das übersehen, weil dort viel weniger ankommen als 2015.«

Die Türkei, Libanon und Jordanien brauchen multilaterale Unterstützung, um der Herausforderung gerecht werden zu können. Auch wenn der Multilateralismus keine magische Waffe sei, und ohne Zustimmung der Konfliktparteien für friedensorientiertes Handeln die UNO und das UNDP schlicht keine Handhabe hätten, sieht Steiner das Versäumnis in erster Linie bei den Nationalstaaten und nicht bei der UN. Der Multilateralismus könne nur Erfolg haben, wenn die Nationalstaaten mitziehen.

Gängigen Erklärungsmustern widersprechend, waren seine Ausführungen für die Beweggründe von Menschen, sich terroristischen Bewegungen anzuschließen. Eine Studie des UNDP, bei der ehemalige Kämpfer in der Sahel-Region befragt wurden, ergab, dass für 71 Prozent staatliche Gewalt der Auslöser war, selbst zu den Waffen zu greifen, die Ermordung des Vaters, die Vergewaltigung einer Schwester und ähnliche traumatische Erlebnisse. Und je länger in der Sahel-Region die Menschen eine religiöse Bildung genossen hätten, umso weniger seien sie durch terroristische Bewegungen manipulierbar, so die UNDP-Studie »Journey to Extremism in Africa«.

»Friedenssicherung kann stabilisieren, ist aber selten eine Lösung«, meint Steiner und verweist stattdessen auf den Slogan, am dem sich das UNDP orientiert: »Leave no one behind.« Niemanden zurückzulassen, wie es sich die UNO-Mitgliedstaaten mit der Agenda 2030 und ihren 17 nachhaltigen Entwicklungszielen zur Aufgabe gemacht hat. Dafür engagiert sich das UNDP in derzeit 170 Ländern, um der enormen Ungleichheit von Chancen und Einkommen auf dieser Welt etwas entgegenzusetzen. Frieden und Wohlstand haben keinen Bestand in einer Welt, die Globalisierung nur als Gestaltung von Märkten versteht, lautet Steiners Credo.