Muster historischer Verstrickung

Die 10. Berlin Biennale setzt komplexe sinnliche Bilder gegen intendierte Verdrängung

  • Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Die südafrikanische Künstlerin Dineo Seshee Bopape arrangiert ein Trümmerfeld und lässt per Video Bilder aus dem Pariser Park Bois de Vincennes flimmern, die ob des grusligen Wissens, dass hier im 18 Jahrhundert ein Menschenzoo eingerichtet war, wie Verzerrungen im Unterbewusstsein wirken. Die Künstlerin Firelei Báez dechiffriert in der Akademie der Künste mit leuchtenden Übermalungen den rationalistischen Zweck ihres Malgrundes: Landkarten Lexika-Seiten und technische Aufmaßzeichnungen des Panama-Kanals aus der Kolonialzeit. Im Volksbühnenpavillon erzählen eine Installation und Performance von medizinischen Versuchen an Frauen aus Puerto Rico.

Es ist Biennale-Sommer in Berlin. An fünf effektvoll gewählten Orten (KW Institute For Contemporary Art, Akademie der Künste am Hanseatenweg, HAU Hebbel am Ufer und Volksbühne Pavillon und im Z/KU Zentrum für Kunst und Urbanistik in Moabit) zeigen 47 Künstler unter anderem aus Havanna, Kairo, Johannesburg, Nairobi, Warschau und Paris ihre Werke zum Thema »We don’t need another Hero!«

Nein, vielleicht brauchen wir keine neuen Helden aber Widerständigkeit, Aufmerksamkeit, Erfahrung und Sensibilität jedes Einzelnen. Seit Anfang Juni währt die Jubiläumskunstschau nun noch acht Wochen, die erstmalig durch ein Vermittlungsprogramm unterstützt wird, das auch Berliner Schulen einbezieht. Die langjährige Direktorin Gabriele Horn freut sich auch über eine gesicherte Finanzierung nicht allein durch den Bund, sondern auch den Senat sogar schon für die kommenden drei Biennalen.

Seit zwanzig Jahren findet im zweijährigen (am Anfang dreijährigen) Rhythmus die international beachtete, privat initiierte Biennale statt und hat ihr eigenes Profil im Kontext der weltweit zahlreichen Kunstevents behauptet. Sie fordert ihren Besuchern (zwischen 80 000 bis 100 000) in der Regel allerhand Lern- und Leseeifer oder das Herumziehen in der Stadt ab. Aber es lohnte sich. Immer waren die experimentell oder widerständig empfundenen Spree-Biennalen Zukunftslabore, Wahrnehmungshilfe und Stichwortgeber für gesellschaftliche Wandlungen, für die moralischen Dispositionen und Effekte neoliberaler Veränderungen und technologischer Innovationen.

In diesem Jahr kuratiert Gabi Ngcobo aus Südafrika gemeinsam mit einem internationalen Team die Biennale mit dem von Tina Turner entlehnten Titel. »Kunst kann die Welt nicht verändern«, aber wir können mit ästhetischen Mitteln das »politische Potenzial von Strategien der Selbsterhaltung« erkunden, erklärt die Kuratorin. Die Kunstschau, so heißt es im Vorwort im Katalog, stellt sich »dem aktuell weitverbreiteten Zustand einer kollektiven Psychose«. Diese lässt sich unschwer mit Fremdenangst, Rassismus, Verlust- und Terrorangst erklären. Ein großes »Nein« bestimme daher die »Grammatik« der Ausstellung. Ein positives »Nein«, das die Abkehr von Denkmustern, Erwartungen mit Liebe, Neubeginn, femininen Sichtweisen, Behutsamkeit, Sich-Trauen verbinden möchte. Softes Herangehen als strategisches Muster.

Tina Turners Song wurde 1985 populär. Wenig später änderte sich die Weltordnung radikal. Wurde das populäre Lied heute erneut als eine Art Kassandraruf ausgeliehen? Immerhin findet die Biennale zu einem Zeitpunkt statt, in der Postkolonialismusdiskurse europaweit das historische Denken verändern, derweil im gleichen Atemzug geostrategische Interessen durchgesetzt werden. Die aus letzterem resultierenden Unsicherheiten bestimmen das Zeitgefühl. Die Kunstschau zeigt sich als eine selbstbewusste Setzung von Bildern und - besser noch - komplexen Bildstrukturen und sublimen Handlungsanweisungen. Dreißig Werke sind im direkten Auftrag für die Biennale entstanden. Es geht um westliche Machtstrukturen, um Afrika, die Karibik, Europa, Berlin, um die historischen Verstrickungen, die auch unsere Gegenwart bestimmen und bis hinein in die Biografie und Körperlichkeit von Menschen wirken. »Sichtbarmachen« kann als roter Faden gelesen werden. Passend dazu die Dazzle-Camouflage als rosa-graues Biennale-Logo. Ein Relaunch optischer Blendmuster, mit denen die britische Flotte im ersten Weltkrieg bemalt wurde, um »unsichtbar« für feindliche Periskope zu sein.

Vor dem denkmalgeschützten Akademie-Bau aus den späten Fünfzigern von Werner Düttmann steht ein Schlossfragment als temporäre architektonische Skulptur. Firelei Báez baut die Ruine des Palais Sans Souci aus Manila in Haiti nach und vermittelt so ein Nachdenken über Geschichte, Aufklärung, Revolution - und Weltkulturerbe. Mit dem Video »Toli, Toli« von Minia Biablanys, das sich um ein gleichnamiges Kinderlied sowie ein Spiel mit einer Schmetterlingslarve aus Basse-Terre, der westlichen Hauptinsel von Guadeloupe rankt, holt die Künstlerin kreolische Tradition ins Bewusstsein.

»Again/Noch einmal«, (2018) von Mario Pfeifer stellt einen Gerichtsprozess nach und lässt per Doppelkanalvideo die Betrachter an der Wahrheitsfindung um die Frage Selbstjustiz oder Zivilcourage teilhaben.

Oscar Murillos »Collective Conscience«, eine mit Unterstützung der Galerie David Zwirner geschaffene raumgreifende Bodenskulptur besteht aus aufgedunsenen Torsi, die aus Jutesäcken herausquellen. Es sind in Altkleidung gehüllte Halbleiber, dazu Kalvarienberge aus Mais-Ton-Schädeln, die in der Akademie der Künste direkt vor der Panoramafensterwand mit Blick auf den Garten samt Wasserbecken, Rosen und blauen Katzenminzen zu amorphen Haufen arrangiert sind. Die Installation wirkt ausreichend verstörend. Murillo präsentiert das Nichtzeigbare. Nichtherzeigbar vielleicht wie die Schädelsammlung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, deren Existenz, Provenienz und zukünftig beabsichtigte Forschungszwecke für anhaltende Irritation sorgen.

bis 9. September, Orte und Künstler unter: www.berlinbiennale.de

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