Reise durch Absurdistan

Stanisław Muchas Dokumentarfilm »Kolyma« erzählt von Menschen, die an der »Straße der Knochen« leben

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Eine Straße führt von Magadan nach Irkutsk, 2000 Kilometer lang ist sie. Es ist die Kolyma, die »Straße der Knochen«, auch »der größte Friedhof der Welt« genannt. Über den Hafen von Magadan kam der Nachschub von Zwangsarbeitern für die Kolyma. Das »Tor zur Hölle« wurde dieser Hafen genannt. Gebaut wurde die Straße von Gefangenen der Gulags nur mit Schaufeln. Wie viele dabei starben oder auch ermordet wurden, weiß niemand genau.

Eine Innenansicht des sibirischen Gulag-Systems findet man in den Erzählungen von Warlam Schalamow, einem großen russischen Autor, der 22 Jahre im Gulag zubrachte. Er bringt den Schrecken in den schönen Satz: »Und so schmolz die Haftzeit allmählich dahin wie das Wintereis in einem Land, in dem kein warmer Frühlingsregen das Leben verwandelt - wo es nur die langsame Zerstörungsarbeit der mal kalten, mal sengenden Sonne gibt.«

Der polnische Filmemacher Stanisław Mucha, der seit Langem in Deutschland lebt, hat sich auf die Reise nach Kolyma gemacht. Sein Großvater war 1952 hierhergekommen und hatte ein Jahr später, nach Stalins Tod, fliehen können. Es war eine absurde Reise, von der ihm der Großvater berichtete. Das Einzige, was er in Kolyma tun musste, war, für die Kinder des Lagerkommandanten eine Schaukel zu bauen. Dafür hatten sie ihn hierhergebracht? Nicht alle hatten so viel Glück - und auch an einen damals unbekannten Schriftsteller namens Schalamow erinnerte er sich.

Mucha fährt auf der Kolyma-Straße durch Berglandschaften, die idyllisch wirken. Aber die Idylle trügt, die Landschaft zeigt immer noch sichtbare Wunden. Die meisten der Spuren des Lagersystems entlang der Kolyma sind heute zwar verschwunden, vereinzelt aber sieht man noch Reste davon, die dessen Dimension erahnen lassen. Die Barackenstädte sind zerfallen, daneben sind neue Städte entstanden. Hier wohnen die Überlebenden von damals, deren Kinder und Enkel, und auch die ehemaligen Bewacher. Man hat sich längst vermischt - aber auch versöhnt? Inzwischen leben hier auch viele Zugezogene. Was heute hier wuchert, ist die Gier nach dem schnellem Geld. Auch diese Wunden zeigt die Landschaft, die von fern noch idyllisch wirkt. Unter der Straße liegen nicht nur unzählige Knochen und Schädel, auch das Gold, dem alle nachjagen.

Dies ist Dauerfrostgebiet, der Boden taut also nie, im Winter sind minus 50 Grad Celsius normal - wie konnte man da mit bloßen Händen eine solche Straße bauen? So wie die Kolyma wirken nur noch die ägyptischen Pyramiden auf uns - diese Bauten waren die Grabdenkmäler ihrer Erbauer.

Aber das Gedächtnis vieler, die heute hier leben, scheint wie ausgelöscht. Das Mädchen am Hotdog-Stand weiß nicht, wovon die Rede ist. Gulag - oder Gulasch? Nein, noch nie hat sie von den Lagern hier gehört. Es herrscht wieder Goldgräberstimmung. Wie bereits zu Stalins Zeiten werden hier seltene Metalle gefördert, vor allem Gold, Silber und Platin. Doch wo es um Gold geht, da herrscht eine ähnliche Mentalität wie beim Drogenhandel. Man geht über Leichen. Die Korruption sei unter Putin zurückgegangen, sagen die Leute, es werde strenger kontrolliert und bestraft. Aber kürzlich verschwanden wieder zwei Tonnen Gold und vierzehn Tonnen Silber, einfach weg, und richtig ermittelt wurde auch nicht. Vermutlich gehörten die Diebe zu Kreisen, mit denen man sich besser nicht anlegt.

Im Kulturhaus laufen selbst gebastelte Pop-Shows, in denen junge Mädchen mit Fähnchen winken und ein Liebeslied auf »Rossia« singen. Ja, man liebt die Heimat, und von der schlimmen Vergangenheit der Kolyma, dem Massenmord, der hier geschah, will man nichts wissen. Erstmals seit 1985 könne er wieder stolz auf Russland sein, sagt jemand, und dass er dafür Putin dankbar sei. Die Stolzen und Dankbaren bilden die eine Hälfte, die Zornigen und Verbitterten die andere. Russland scheint tief gespalten, auch hier im Osten Sibiriens.

Mucha sucht - und findet - nicht nur die Kinderschaukel, die sein Großvater einst baute, er trifft auch jene Menschen, die hier irgendwie hängen geblieben sind, Kauze, die sich in Nischen eingerichtet haben. Auf den Märkten draußen gibt es nur Tiefgefrorenes. »Was für ein hübsches Pferdchen!«, ruft eine Frau und hält dessen abgeschlagenen Kopf ins Bild. Ist das die Rohheit, die aus dem schweren Leben der Ureinwohner hier erwächst, oder hat die Stumpfheit Ursachen, die im Heute liegen?

Einige von denen, die Mucha auf seiner Reise auf der Kolyma trifft, waren noch selbst Gefangene der Gulags. Sie fühlen sich vergessen und, schlimmer noch, verraten vom heutigen Russland. Die Jungen wollen vor allem weg aus der großen ewigen Kälte. Man kann es ihnen nicht verdenken. Wie viele der Insassen der Gulags politische Häftlinge waren, weiß man nicht. Mucha trifft einen, der eine private Gulag-Reliquiensammlung angelegt hat. Dieser Hobbyforscher schätzt deren Anteil auf 25 Prozent. Das Lager sei übrigens nicht so schlimm gewesen, sagt er, eher eine »Schule des Lebens«. Für diese überaus milde Einschätzung hat er auch einen offiziellen Orden bekommen, er ist »Preisträger der russischen Regierung«.

Die Jakuten, die Ureinwohner Sibiriens, sagen, die Gulag-Vergangenheit Sibiriens sei Sache der Russen, das ginge sie nichts an. Sie haben immer noch ihre Schamanen, bauen Pfähle, an denen die Opfergaben für die guten und die bösen Geister befestigt werden.

Mucha trifft einen alten Mann, der mit einer jungen Frau zusammenlebt und der sagt, er brauche den Sex, schließlich sei er ein Mann. Dafür sei er milde zu ihr, auch wenn sie ihn betrüge. Früher hätte er sie dafür umgebracht. Dies ist so selbstverständlich gesagt, dass es einem noch kälter wird, als es beim Ansehen der Bilder von Eis und Schnee ohnehin schon ist. Und ich denke an Tschingis Aitmatows Roman »Die Richtstatt« aus den 1980er Jahren und seinen Befund von der seelischen Rohheit, die mit dem Zerfall ziviler Normen einhergeht.

Mucha trifft auch einen Wunderheiler, der glaubt, mittels elektrischen Stroms Menschen verjüngen zu können. Er will mit seiner Wunderheilmaschine zu Geld kommen und macht gleich Reklame. Ob er schon jemanden mit seinen Stromstößen getötet habe? Noch nicht.

Ein gut situierter Schamane erklärt sichtlich stolz im Interview, dass er die gleiche geistige Kraft besitze wie ein amerikanischer Geschäftsmann. Man hört es und glaubt es sofort.

Am Ende der Fahrt auf der »Straße der Knochen«, die wie eine Reise durch Absurdistan wirkt, kommt Mucha in Irkutsk an, der kältesten Großstadt der Welt. Lenin steht hier beharrlich auf seinem Sockel und weist mit ausgestreckter Hand den Weg. Aber wohin Russland dieser Weg führt, weiß niemand.

»Kolyma«, Deutschland 2017. Dokumentarfilm. Regie/Buch: Stanisław Mucha. 89 Min.

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