Aus Angst vor der Kraft der Filme

Das letzte Kino in Gaza ist heute eine Ruine. Selbst viele Jahre nach seiner endgültigen Schließung zeugt es noch von der Sehnsucht nach Filmen. Eine Spurensuche

  • Miriam Sachs
  • Lesedauer: 9 Min.

Man geht in Gaza nicht zu Fuß. Viele nutzen das Taxi, es kostet kaum etwas, und man teilt sich die Wege mit Fremden. Wer zu Fuß geht, läuft auf der Straße, zwischen hupenden Autos, Eselskarren und wiederbelebten Motorrädern. Die Bürgersteige sind uneben. Kriegsspuren, Risse, Baumwurzeln, die den Asphalt sprengen - und schon ist man über die Überreste eines alten Filmtheaters gestolpert.

Die Fassade des ehemaligen Filmtheaters versteckt sich im Grün hoher Bäume. Die Leuchtreklameschrift strahlt schon lange nicht mehr, das »A« und »E« von CINEMA EL NASER (»Kino Sieg«) fehlen, das Gebäude steht leer - kein Kollateralschaden des letzten Krieges, sondern etwas, das abgeschafft wurde kurz nach der ersten Intifada, dem Aufstand der Palästinenser, der 1987 begann: Im Hamas-regierten Gazastreifen ist Kino nicht willkommen.

Der Islam gilt als bilderfeindliche Religion; ein Ort, an dem sich Bilder in Bewegung setzen und das Publikum mitreißen, passt nicht ins Konzept der Hamas. Sie hat, auch wenn sie zurzeit angeschlagen scheint und sich in eine Kooperation mit der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas begeben musste, im Gazastreifen nach wie vor die Kontrolle. Zwar behauptet Anwar al-Barawi, der Minister für Kultur ist und der Hamas angehört, nichts gegen Filme zu haben - »unter gewissen Bedingungen. Solange keine Körper gezeigt werden oder gar Nacktheit«. In Gaza gilt jedoch bereits der Auftritt von Schauspielerinnen ohne Kopftuch - ob im Film oder auf der Bühne - als eine Art von Pornografie. Selbst der Ausdruck von Gefühl oder der Gesang gelten als obszön. Schauspielerinnen leiden folglich nicht nur unter Zensur, sondern auch der »Schande«, die sie im Fall des Falles über ihre Familien bringen.

Zu den Filmen gehen

Das war früher anders. Gaza besaß einmal vier Kinos, vom großen Palast bis hin zum mobilen Kofferkino, das an die Anfänge des Films in Europa erinnert: Vorführer mit portablen Projektoren, die von Ort zu Ort fuhren, in Lokalen ihre Streifen vorführten und auf Jahrmärkten. In Gaza zeigte man Filme aus Ägypten: üppige Gärten, Traumländer jenseits der Kriegsrealität. Ist es nicht natürlich, dass Menschen, die in einem winzigen Territorium eingepfercht leben, sich nach einer schönen Welt sehnen, nach Ablenkung? Im Nachkriegs-Westdeutschland 1946 wuchsen Kinos sehr schnell aus den Ruinenlandschaften und kamen zur Hochblüte im bunten Agfacolor des Heimatfilms. Kulturminister Amar winkt ab. »Deutschland hat seine Tradition und Gaza eine ganz andere. Hier müssen wir jederzeit damit rechnen, dass die israelischen Streitkräfte wieder zuschlagen.« Menschen, die vor der Wahl zwischen Essen und Unterhaltung stünden, würden sich immer fürs Essen entscheiden.

Liegt es vielleicht an diesem Entweder-oder, dass der ehemalige Besitzer des alten Kinos Zwiebelverkäufer und Besitzer eines kleinen Ladens wurde? Er starb 2015 - der Sohn äußert sich nicht zum Thema Kino, der Laden jedoch spricht Bände: Hinter Holzkisten und Bergen von Zwiebeln hängen noch alte Filmplakate: Bollywood-Schönheiten werden eins mit der kalkweißen Wand, Karatekämpfer scheinen aus den Gemüsekisten empor zu springen. Indische Titel, Israelische, schöne Frauen, Soldaten - und Zwiebeln. Filme bringen einen manchmal zum Weinen.

Zwiebeln auch. Eine junge Studentin in Latzhosen und ohne Kopftuch, die zufällig im Laden einkauft, bekommt ebenfalls feuchte Augen: Bedeutet der Tod des Kinobesitzers, dass es nie wieder Filme geben wird? »Going to the movies, zu den Filmen gehen, heißt anderswo sein. Was kann man schon tun in Gaza?«, sagt sie mit bebender Stimme.

Noch gibt es andere ehemalige Mitarbeiter von Kino Naser, zum Beispiel Samir. Die Fahrt zu ihm, den mein Übersetzer Mohamed den »Kinomann« nennt, durch das chaotische Gaza führt wieder zurück, am Kino vorbei. Da ist sie wieder, die ehemals weiße, verkommene Fassade seitlich des Haupteingangs. Mitten im abgeblätterten graulila Putz muss früher ein Fenster gewesen sein. Mauersteine stecken sperrig in der Wand, wo vielleicht einmal ein Schaukasten war oder Eintrittskarten verkauft wurden.

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Ins Innere kommt man nur heimlich, Tauben nisten in herausgebrochenen Fenstern. Graffiti bedecken das Mauerwerk, und wie schon im Zwiebelladen zeugen vergilbte Plakate von der verlorenen Zeit. Unweit der ehemaligen Pracht wohnt »der Kinomann«, ein würdiger älterer Herr, stattlich, freundlich und ruhig.

»Ja, das Kino!«

1953 eröffnete es, blühte in den 60er Jahren bis in die 70er. Samir fing als kleiner Junge dort als Kartenabreißer an, wurde bald befördert zum Ticketverkäufer und landete in der Buchhaltung, bis er schließlich zum Manager aufstieg. Er schwärmt vom Luxus, den nummerierten Plüschsesseln und der riesigen Leinwand. Der große Kinosaal war dreigeteilt: ein Bereich für Männer, einer für Frauen und ein Familienbereich. Abgesehen vom heimlichen Händchenhalten - ist auch die Erfahrung, gemeinsam in einem Raum mit fremden Menschen die Botschaft eines Films aufzusaugen, sich von Gefühlen mitreißen zu lassen, ein Grund dafür, dass es keine Kinos gibt? Dabei wäre auch für die Hamas die Möglichkeit der Propaganda interessant.

Nach der ersten Intifada 1987 wurde das Kino geschlossen, 1992 durfte es wieder öffnen. Samir, inzwischen Teilhaber, hatte sein ganzes Geld in die Wiedereröffnung gesteckt. Renoviert, eröffnet - bald darauf untersagte die Hamas Filmvorführungen in der bisherigen Form. Zu viel westliche Bilderwelt. Das Kino schloss für immer. Samir redet jetzt leidenschaftlicher als zuvor, der Übersetzer kürzt die Rede ab: Samir spräche über den Zusammenhang von Religion und Film.

Da fällt mir Luther ein, die Bilderstürme. Keine Ahnung, was wiederum davon an Samir weitergegeben wird. Na ja, schon klar, dass die Leute in Gaza nichts über Ikonoklastie und das deutsche Mittelalter hören wollen. Erst später raunt man mir zu, worum es wirklich ging, und wie groß Samirs Wut auf die Hamas war. Mohamed übersetzt bestimmte Sätze nicht, wie beispielsweise »Das war die Hamas. Die haben mein Kino zerstört!« Er fürchtet, dass Samir Schwierigkeiten bekommt. Die Angst vor der Hamas spürt man überall.

Und die Hamas wiederum fürchtet die Kraft der Filme? - Wieso? Inzwischen haben doch eh alle Fernsehen und Internet - jedenfalls dann, wenn es Elektrizität gibt, das heißt vier Stunden von 24 am Tag. Außerdem gibt es Läden, in denen heruntergeladene und illegal gebrannte Filme für zwei Dollar das Stück zu erwerben sind.

Wenn man Samir fragt, was der Unterschied sei zwischen Kinobesuch und Fernsehen zu Hause, schwärmt er von der großen Leinwand. Das sei »unvergleichbar«. Und das kollektive Erlebnis? Ist es gefährlicher, wenn alle zusammen zur selben Zeit denselben Film gucken? Er nickt nachdenklich. »Ja, vielleicht.«

Der Gedanke ans Kino und an seinen Freund Adnan, den verstorbenen Besitzer, hat ihn etwas traurig gemacht; viel sagt er nicht über ihn, nur dass er ein großer Liebhaber von Bollywood-Filmen gewesen sei. Die Plakate unter den Zwiebelschichten zeugen noch davon.

Samirs Lieblingsfilme

Erst winkt er ab: »Zu viele hab’ ich geliebt. Einen über einen arabischen Poeten, amerikanische Kriegsfilme und andere mehr.« »Rambo« sei großartig gewesen und ganz besonders »Das Phantom-Kommando« (1985), da spiele ein Arnold Schwarzinger mit, der sei inzwischen in Amerika Gouverneur in Arizona oder so, erklärt er.

Wozu ihn verbessern? So wichtig ist es nicht, ob Schwarzenegger in Kalifornien Politik gemacht hat oder anderswo. Samir aber begeistert es: »Kino kann so viel bewirken!« Man weiß nicht genau, ob er immer noch Schwarzenegger meint oder das Kino im Allgemeinen. Leidenschaft schwingt mit, als er erzählt, wie er damals die Filme ausgesucht hat, damals noch nach Jerusalem fuhr, um sie zu sichten und mit den geliehenen 35-mm-Filmrollen zurückkam.

Samir ist Realist. Die Filme waren schön, aber auch das Geld, das sie gebracht haben. Alles zusammen stimmte an »seinem Kino«, auch die Kasse. »Jetzt ist es vorbei«. Hinter seinem Seufzen steht ein Fragezeichen. Er könne sofort beraten, wenn jemand das Kino wieder öffnen wollen würde.

Wäre das denn möglich? Wäre alles noch da? Brauchte man nur einen Schlüssel, der die Tür öffnet und einen Hammer, der die Steine aus dem Schaukasten schlägt?

Der Kulturminister der Hamas, Anwar al-Barawi, betont, nichts gegen das Kino zu haben. Aber es würde sich nicht rentieren. In Gaza gäbe es zwar viele Talente, aber kein Geld für die Produktion oder für Schauspielerausbildung. Auf die Anschuldigung, die Hamas habe das Kino in Brand gesteckt, beteuert er: »Ich sage Ihnen hier die Wahrheit: Hamas wollte das nicht. Aber jede Gesellschaft hat Extreme. Wenn die Krise groß ist, tun sich Extremisten hervor.«

Wieder beteuert der Minister, die Hamas unterstütze Kreativität. Und: »Wir wollen Frieden.« Wer genau dieses »wir« ist, lässt er offen. Menschen wie der Übersetzer bezweifeln das.

»Gehst du denn manchmal ins Kino?«, fragt er mich später, als wir uns verabschiedet haben vom Kinomann und seiner siebenjährigen Enkelin, die gar nicht weiß, was ein Kino ist. Welchen Film ich zuletzt gesehen hätte, will Mohamed wissen.

»Woody Allen« - kennt er nicht.

»A jewish filmmaker« - Verdammt, jetzt kriegt er die falsche Assoziation. »But a really great, independent one. Very funny ...«

Mohamed ist enttäuscht, nicht so sehr wegen des angeblich lustigen alten Juden in New York, sondern weil er sicher gewesen war, ich würde Adam Sandler sagen.

»Adam Sandler?« Ja, okay, der ist auch ein bisschen lustig.

Am Fenster vorbei rauscht die Stadt, Mauern, nur selten bemalt. Graffitis zeigen Yasser Arafat und Scheich Jassin, an einer weiteren Wand läuft Micky Maus, und am Gebäude einer Versorgungsbehörde prangt ein verknoteter Wasserhahn vor dem ratlose Comicfiguren stehen, weil kein Wasser rauskommt. Erlaubte Bilder, durch die Fahrt des Taxis im Daumenkinomodus ebenfalls bewegt. Hinter der Graffitiwand gähnt die Ruine eines zerbombten Hauses. Spielende Kinder, fliegende Händler. Der Verlust eines Daches über dem Kopf ist immer größer als der Verlust eines Kinos. Und trotzdem ergreift mich das Gespräch mit Samir mehr als alles andere. Weil ich als Wohlstandsgesellschaftskind die Luxus-Mangelerscheinungen besser nachvollziehen kann, als die existenziellen?

Vielleicht ist »Kino« aber auch kein Luxus, sondern die Möglichkeit gemeinsamer Empathie, für Hoffnung und Visionen, der Möglichkeit, einen Blick in andere Wirklichkeiten zu werfen. Und es ist ein verständlicher Wunsch, der eigenen Realität für ein paar Stunden zu entfliehen.

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