Im Verborgenen gegen das Reglement

Junge Palästinenser im Gazastreifen sind ihre eigenen Kameraleute und Filmvorführer

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Nacht hat Gaza in eine tiefe Dunkelheit getaucht; der Strom ist mal wieder aus, wie so oft. In einem Hinterhof, die Seitenstraße runter, die Gasse rechts ab und dann über das Gerümpel hinweg, sitzen die 16-Jährigen Mohammad, Fahdi und ihre Freunde. Sie warten darauf, dass der Strom angeht, darauf, dass sie endlich loslegen können. Auf einem Stein steht ein uralter Fernseher, daneben ein DVD-Spieler.

Einen James-Bond-Film werde man sich anschauen, hatte Fahdi, Freund des Sohnes eines palästinensischen Kollegen am Mittag erzählt, und darum gebeten, es bloß niemandem weiterzusagen. Denn was für Jugendliche in Europa und im Westjordanland normal ist, das ist im Gazastreifen, zehn Jahre nachdem die Hamas die Macht übernommen hat, ein gefährliches Abenteuer: Die Hamas macht den Menschen strenge Vorschriften darüber, was sie zu tun und zu lassen haben. Und Kinos, westliche Filme sind tabu: Wenn man mal eine Vorführung erlaubt, dann ist das Filmprogramm zuvor meist sorgsam geprüft worden. Doch organisierte Filmvorführungen sind ohnehin selten.

»Wenn wir mal was anschauen wollen, dann müssen wir das selbst organisieren«, sagt Fahdi. Und die Jugendlichen in Gaza wollen oft, denn viel Ablenkung vom tristen, perspektivlosen Alltag gibt es hier nicht: »Wir treffen uns mehrmals die Woche hier«, erzählt Mohammad, »eigentlich immer dann, wenn unser Kontakt einen neuen Film hat.« Denn westliche Filme werden entweder auf DVD, CD oder Videokassette in den Gazastreifen geschmuggelt, oder von Leuten, die über einigermaßen moderne Computer verfügen, aus dem Netz heruntergeladen. Moderne Computer, das haben heutzutage die allerwenigsten in Gaza. Man kann sie sich schlicht nicht leisten. Und auch für den DVD-Spieler haben die Jugendlichen zusammen gelegt; umgerechnet 50 Euro haben sie dafür gezahlt. Das ist für die Menschen hier viel Geld.

Dass man nun in einem Hinterhof sitzt, darauf wartet, dass der Strom durch die Verlängerungsleitung fließt, die aus einer Steckdose in einem unbewohnbaren Haus führt, das liegt vor allem daran, dass zu Hause »die Wände Ohren haben«, so Fahdi: »Da hat man ziemlich schnell die Kassam-Brigaden vor der Tür stehen.« Und der militärische Flügel der Hamas nimmt im besten Fall den DVD-Spieler mit, im schlimmsten Fall auch alle Anwesenden.

Warum sie sich diesem Risiko aussetzen? »Wir brauchen die Ablenkung«, sagt Mohammad: »Wenn man den ganzen Tag mit diesem Druck lebt, dann rastet man irgendwann aus.« Mitten in der tiefen Dunkelheit, die nur von einigen Taschenlampen etwas aufgehellt wird, zeigen die Jugendlichen auf ihren Handys Filme, mit denen sie ihren Alltag dokumentieren. Ein junger Mann namens Sa’ed hat als Zwölfjähriger während des Gazakrieges im Sommer 2014 aufgenommen, wie seine Familie nachts mitten in einem israelischen Luftangriff Schutz sucht. Ein anderer hat aufgenommen, wie die Kassam-Brigaden am hellichten Tag wahllos Leute »festnehmen« - die paramilitärische Organisation hat auch in der Struktur des Hamas-Regimes keinerlei Hoheitsbefugnisse.

Die Jugendlichen hier sind nicht die einzigen in Gaza, die ihr Leben per Handy dokumentieren: Ob auf dem Schulhof, beim Einkauf oder auf der Demonstration am Grenzzaun: Das Handy ist auch hier meist dabei. So mancher versucht, die Videos so professionell wie möglich zu gestalten.

Einer davon ist der 19-jährige Hischam, der zur Mittagsstunde ganz weit hinten in einem Internetcafé sitzt, und Bilder zu einem Video zusammen schneidet, die er Tage zuvor auf einer Demonstration am Grenzzaun aufgenommen hat. Nein, er gehöre nicht zur Hamas, erzählt er. Doch was er tut, ist ganz im Sinne der Organisation: Sein Video wird vom Vorgehen des israelischen Militärs gegen die Demonstranten erzählen. Die Bilder sind drastisch: Menschen, die auf den Zaun zustürmen, Menschen, die blutend am Boden liegen. Es seien Szenen, die von der Hamas sorgsam orchestriert worden seien, sagt Israels Regierung. Es seien Menschen, die aus Verzweiflung und Wut an den Zaun kommen, kontert die Hamas-Regierung, die zu den Demonstrationen aufruft. »Für mich sind diese Bilder das, was ich gesehen habe«, sagt Hischam: »Es ist meine Sicht der Dinge, die ich der Welt zeigen möchte.« Stunden später wird das Video in sozialen Netzwerken auftauchen, neben vielen anderen Filmen aus dem Gazastreifen.

Ab und zu findet sich darunter auch ein Spielfilm, meist kurz, meist laienhaft von unbekannten Urhebern hergestellt. Oft sind es Lehrer und Dozenten, die Schüler und Studenten dazu ermuntern, Drehbücher zu entwickeln: »Mit dem Mittel der Fiktion kann man auch kontroverse Themen angehen, die die jungen Leute bewegen«, sagt Mahmud Khalili, ein Englischlehrer, der lange Zeit in den USA gelebt und die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Die Hamas dulde das, so lange die Reizthemen nur angedeutet werden: »Die Organisation weiß, dass ihr ein zu hoher Druck bei den Menschen irgendwann ins Gesicht explodieren wird.«

Doch offizielle Filmproduktionen erlaubt die Regierung nur dann, wenn es ihre eigenen sind: Außerhalb von Gaza hat man ein Filmstudio samt Nachbau von Jerusalemer Altstadt-Gassen errichtet. Gedreht werden hier ausschließlich Propaganda-Filme für den TV-Sender der Hamas.

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