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Occupy Wohnraum

Einst war Berlin ein Paradies für Hausbesetzer. Was ist aus den Projekten von damals geworden? Eine Suche

  • Tim Zülch
  • Lesedauer: 7 Min.

»Das ist eine Art Familienersatz hier«, sagt Andrea Heilmann, als sie die Espressokanne auf den Herd stellt. Wie alle Bewohnerinnen und Bewohner der ex-besetzten Häuser in diesem Text heißt Heilmann eigentlich anders, in der Szene liest man seinen Namen nicht so gerne in der Zeitung. Mit am Tisch sitzen Thilo Braune und Claudia Schultz. »Ich habe extra Eis besorgt für das Gespräch heute, Walnuss und Kirsche«, ruft Heilmann und serviert Eis und Schälchen. Bei ihrer Wohnungssuche habe sie damals speziell eine größere Gemeinschaft gesucht, alleine wohnen könne sie sich nicht vorstellen. Auch bei den anderen am Tisch ist das die Hauptmotivation dafür, in einem ehemals besetzten Haus zu wohnen.

Teilweise ausgeschlachtet

1990 wurde die Scharnweberstraße 29 in Friedrichshain im Zuge der Besetzungen in der nahe gelegenen Mainzer Straße mitbesetzt. Der Zustand war schlecht, das Haus war noch in der DDR zum Abriss vorgesehen. Besetzer aus der Mainzer Straße hatten es außerdem bereits ausgeschlachtet, um die Einbauten für andere Häuser zu nutzen. Im Mai 1990 zogen eine Handvoll Menschen in das Haus ein. Möbel und Hausrat fanden sie auf der Straße.

Damalige Bewohner berichten in einem Interview, dass sie nach einigen Wochen zur Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain (WBF) gegangen seien und sich dort als Besetzer gemeldet hätten. Zu ihrer Überraschung habe die Sachbearbeiter die Besetzung nicht sonderlich interessiert. Viel wichtiger sei gewesen, dass ein Hausbuch, das in jedem Wohnhaus der DDR geführt wurde, ordentlich weitergeführt wird. Der Beginn der Besetzung sei mehr »wie Camping« gewesen.

Aus Besetzern werden Mieter

Vom Sturm der Räumung der Mainzer Straße im November 1990 wurde das Haus in der Scharnweberstraße 29 verschont. Die Bewohner verbarrikadierten sich im Haus und beobachteten vom Dach aus die Hundertschaften der Polizei, die sich durch die Mainzer Straße drängten und ein Haus nach dem anderen mit Hilfe von Wasserwerfern, Räumpanzern und Spezialkräften räumten. Spätere Verhandlungen mit der WBF führten schließlich zu gültigen Mietverträgen für die Wohnungen des Hauses. So wurden aus Instandbesetzern Mieter.

Momentan wohnen in dem Hausprojekt »Scharni29« 16 Menschen. Keiner von ihnen war 1990 dabei, aber es gibt noch vereinzelt Kontakte zu den damaligen Besetzern. Heute teilt sich das Haus in zwei etagenübergreifende Wohngemeinschaften, die sich jeweils eine Küche teilen. »Vor einigen Jahren noch gab es Zoff zwischen den Küchen. Die eine Küche war mehr politisch orientiert. Hier wohnten einige Verfechter der Antideutschen. Die andere Küche orientierte sich mehr an subkulturellen Strukturen und anarchistischen politischen Ansichten.« Mit den Jahren habe der Dogmatismus abgenommen, weiß Heilmann. »Mittlerweile verstehen wir uns gut. Es gibt viel Austausch, und wir unternehmen auch küchenübergreifend viel miteinander«, erklärt Claudia Schultz. Allerdings merke man auch, dass durch das Wohnen in einem Hausprojekt die Außenkontakte abnehmen. »Der gemeinsame Kampf schweißt eben zusammen«.

Gemeint ist damit der Kampf mit der jetzigen Hausverwaltung und dem Hauseigentümer Gijora Padovicz, der das Haus 2001 erwarb. 2007 sanierte es der Eigentümer gegen den Willen der Mieter, die neue Mietverträge bekamen. Der Berliner Senat unterstützte das Vorhaben im Rahmen des damaligen Programms »Soziale Stadt«, wodurch die Mietpreise bis heute gedeckelt sind. Seitdem trudeln jedoch immer wieder Abmahnungen, Kündigungen und Klagen ein - mittlerweile fanden rund ein Dutzend Mietrechtsprozesse statt. 2015 schließlich wurde das Erdgeschoss mit dem Schenkladen und dem erweiterten Wohnzimmer »Chaekpoint Scharni« geräumt. Einen diesbezüglichen Prozess verloren die Bewohner aus formalen Gründen.

Wegen der vielen Klagen beschäftigen sich die Bewohner in ihrer Freizeit mit dem Mietrecht oder führen Gespräche mit dem Anwalt. »Ich sehe das als eine Art Hobby«, sagt An-drea Heilmann und ergänzt: »Wir sind schon sehr zäh - und zum Teil macht es ja auch Spaß.« Entscheidend sei da auch die Gemeinschaft: »Es ist ein riesiger Unterschied, ob man sich damit alleine rumschlägt. Die Bürokratie und die Aufregung, wenn eine Kündigung im Briefkasten liegt, belastet viel weniger, wenn man sich mit anderen darüber austauschen kann.«

Der Gedanke an die Zukunft belastet sie dennoch. »Was ist, wenn der Bindungszeitraum in rund zehn Jahren ausläuft? Dann werden die Mieten hier massiv steigen«. Bis dahin sind die Mieten noch auf den Mittelwert des Mietspiegels begrenzt.

Pachtvertrag in der Liebigstraße 34

Auch in der Liebigstraße 34 im Nordkiez von Friedrichshain haben die rund 40 Bewohnerinnen Stress mit dem Eigentümer: Auch hier ist es Padovicz. Vor zehn Jahren schlossen sie einen Pachtvertrag mit ihm ab. Der Vertrag sicherte ihnen die weitgehende Verfügung über das Haus zu, das 1990 wie die Häuser in der Mainzer Straße und die »Scharni29« besetzt worden war. »Wir können hier durch den Pachtvertrag weitgehend autonom leben, Kontakt zum Hauseigentümer hatten wir eigentlich nie«, sagt Bewohnerin Emma Stern. Die Liebigstraße 34 ist ein erklärtermaßen »anarcha-queerfeministisches« Hausprojekt. Das heißt unter anderem, dass hier keine Männer wohnen, die sich als solche begreifen. Trotzdem sei es ein sehr »diverses« Wohnprojekt, wie Stern betont. So lebten hier Menschen aus verschiedenen Kulturen und Ländern zusammen, Plenumssprache sei Englisch. »Viele Hausprojekte sind weiß dominiert, aber bei uns nicht. Wir lernen viel voneinander, aber manchmal ist es durch die Vielfalt auch schwierig, Entscheidungen zu treffen«, so Stern. Ein Freiraum, der durch das Konzept des Pachtvertrages und die im Vergleich günstigen Mieten ermöglicht wird.

Der Pachtvertrag läuft nun Ende des Jahres aus. Bei den Bewohnerinnen ist das Grund zur Sorge: Die Chancen zu bleiben sind begrenzt. »Das ist hier mehr als ein Zuhause, es geht uns auch um die Idee des queerfeministischen Projekts. In Berlin ist das einmalig«, sagt Stern. Bei einer Räumung würde die gesamte Straße einen anderen Charakter bekommen, ist Stern überzeugt. Deshalb wollen die Bewohnerinnen dafür kämpfen, auch über das Jahresende hinaus im Haus wohnen bleiben zu können. Doch bisher hat der Besitzer auf Briefe des Vereins nicht einmal geantwortet.

Kollektives und günstiges Wohnen

Der momentane Willen in der Politik, Besetzungen als produktive Kraft im Kampf um bezahlbaren Wohnraum zu begreifen, ist begrenzt. Das zeigten die schnellen Räumungen nach der »Berliner Linie«, die seit 1981 eine Räumung von Neubesetzungen innerhalb von 24 Stunden vorsieht und seitdem nur temporär ausgesetzt wurde. Dabei können Besetzungen durchaus als Teil einer Strategie gegen Wohnungsnot und für kreative Projekte gesehen werden. Das meint auch Scharni29-Bewohner Thilo Braune: »Besetzungen wie zuletzt in Berlin können neue Möglichkeiten für kollektives und günstiges Wohnen schaffen.«

Das zeigen ehemals besetzte Häuser, wie die ab 1996 durch die Selbstverwaltete Ostberliner Genossenschaft SOG gekauften Häuser in der Kreutziger- und Rigaer Straße. Mit Hilfe des Landesprogramms »Bauliche Selbsthilfe« wurden die Hausgemeinschaften ertüchtigt, die Häuser selbst zu sanieren. Dabei kam rund ein Drittel der Baukosten direkt vom Land, ein weiteres Drittel über ein zunächst zinsfreies und später zinsgünstiges Darlehen der Investitionsbank Berlin. Das restliche Drittel musste das jeweilige Projekt durch Eigenleistungen aufbringen.

Heute gehören die Häuser zu Genossenschaften wie der SOG oder dem Freiburger Mietshäusersyndikat und können über ihre Geschicke weitgehend selbst bestimmen - und die Mietpreise sind dauerhaft niedrig. Während im Umkreis des Boxhagener Platzes in Berlin-Friedrichshain, praktisch keine für einfache Familien bezahlbare Wohnungen mehr zu kriegen ist, wohnen beispielsweise in dem ex-besetzten Hausprojekt Kreutziger18/19 rund 50 Erwachsene und Kinder zusammen. Im Vorderhaus sind politische Projekte und eine Kneipe untergebracht. Zum Haus gehört auch eine große Frühstücksterrasse und ein Garten, in dem in einem Steinofen Pizza für Besucher aus dem Kiez gebacken wird.

Noch heute scheinen die Projekte, die mit Hilfe einer Genossenschaft das Haus selbst erworben haben, Rechtfertigungsdruck zu haben. So schreibt die SOG auf ihrer Webseite: »Denn die «Verräter*innen» von damals, die sich ... den Verhandlungen mit dem Feind hingaben, sind heute eines der letzten gallischen Dörfer in einem von der kapitalistischen Totalherrschaft eroberten Berlin.«

In der »Scharni29« ist man sich bezüglich dieser Frage einig: »Wir wollen das Haus kaufen«, sagt Claudia Schultz. Doch der Besitzer spiele nicht mit bei dem Spiel. »Besitzer Padovicz will nicht verkaufen, das hat er uns gesagt.«

Bei den Bewohnerinnen der Liebig 34 hingegen ist man bezüglich der Proteststrategie uneins: »Wir überlegen noch, wie unsere Strategie aussieht. Bei Politik und Hausbesitzer betteln wollen wir nicht, aber einfach so ›Tschüss, wir gehen!‹ werden wir auch nicht sagen«, sagt Stern.

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