Mit den Augen des Anderen

Eine Widerrede in der Debatte um »Kosmopolitismus« und linksliberalen »Moralismus«

  • Horst Kahrs und Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist, zumal in Debatten im linken Spektrum, zur Mode geworden, einen linken oder linksliberalen Kosmopolitismus als moralische Überheblichkeit zu geißeln und zum Trojanischen Pferd des Neoliberalismus im Lager der Progressiven zu erklären. Linker »Kosmopolitismus« und linksliberaler »Moralismus« verschmelzen in manchen Debattenbeiträgen zu einer Art Irrlehre, die sich nur Besserverdienende leisten können, die klassenpolitisch auf die andere Seite der Barrikade führt und die von Überheblichkeit gegenüber den arbeitenden Klassen gekennzeichnet ist.

Wird nach Gründen für die Schwäche der Linken und den Aufstieg der Rechten auch bei Arbeitern gesucht, gedeihen der neue Anti-Kosmopolitismus und eine angeblich neue Teilung der Welt in zwei konträre Lager: »auf der einen Seite der neuen Konfliktlinie die Kosmopoliten, die gebildeten, urbanen ›frequent travellers‹, die der Globalisierung aufgeschlossen gegenüberstehen und überdurchschnittlich verdienen. Auf der anderen Seite stehen die Kommunitaristen, die weniger gebildet sind, weniger verdienen und nicht so mobil sind. Sie haben ein besonderes ökonomisches wie kulturelles Interesse an der Erhaltung nationalstaatlich eng kontrollierter Grenzen«, wie das unlängst der belgische Politikwissenschaftler Lev Lhommeau formuliert hat.

Die Autoren

Horst Kahrs, Jahrgang 1956, ist Sozialwissenschaftler und arbeitet als Referent des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Tom Strohschneider, geboren 1974, ist Journalist und Redakteur der wirtschaftspolitischen Monatszeitung »OXI«. Ihr hier veröffentlichter Text ist die von »nd« stark gekürzte Fassung eines Beitrags, der dieser Tage auf der »OXI«-Internetseite erschien.

Zum Weiterlesen: oxiblog.de/die-welt-mit-den-augen-des-anderen-betrachten/

Der SPD-Grundsatzreferent Nils Heisterhagen schreibt in der »Zeit«, »kosmopolitischen Linken - die mittlerweile auch in einem ökonomischen Sinn neoliberal denkende Menschen sind - ging und geht es dabei oft einfach nur darum, ihr eigenes Gewissen zu beruhigen«. Soll heißen: Wer in sozialen Netzwerken für Toleranz und Vielfalt wirbt, betreibe einen »linken Moralkonservatismus: Die ökonomischen Verhältnisse sollten bitte so bleiben, wie sie sind«.

Den Dramaturg Bernd Stegemann und die LINKE-Politikerin Sahra Wagenknecht beschäftigte vor ein paar Wochen in der »Zeit« ebenfalls ein behauptetes »Zusammenspiel zwischen linker Moral und neoliberalen Interessen«, das zwei unterschiedliche Freiheitsbegriffe verquicke: »Unter den Schlagworten Grenzenlosigkeit und Diversität haben sich die Widersprüche inzwischen zu einem Komplex aus Moral, Interessen und Herrschaftstechnik verquickt. Grenzenlosigkeit ist die Geschäftsgrundlage, mit der multinationale Konzerne demokratische Regeln umgehen, Steuern vermeiden und die heimischen Arbeitsmärkte unter Druck setzen. Und Grenzenlosigkeit ist für ein bestimmtes Milieu in den Wohlstandszonen eine moralische Pflicht und ein konkreter Genuss.« Aus der »Fülle dieser Privilegien« entspringe eine bestimmte Sicht auf die Welt, die in einem Akt »der moralischen Überheblichkeit der Privilegierten« allen anderen aufgedrückt werden solle. »Was übersehen wird, sind die materiellen Bedingungen einer solchen Moral«, etwa der Grenzenlosigkeit, des Kosmopolitismus oder auch nur des ökologisch korrekten Verhaltens: »Man muss sich ein solches Leben leisten können«.

Drei allgemeine Motive werden sichtbar, sie kehren in unterschiedlichen Formen in den Debatten über Rechtsruck, Populismus und Klassenpolitik wieder.

Der Kosmopolitismus, um den es da gehen soll, wird erstens als »Gefühl«, als bloßes »sich Gerieren« dargestellt - was ihn gegenüber einer sich wissenschaftlich gebenden Kritik vor jedem Argument entwertet. Kosmopoliten - in der Regel ist das keine Selbstbeschreibung, sondern eine Plakette, die man von Kritikern aufgeklebt bekommt - genießen ihre Privilegien und »moralisieren«.

Der Kosmopolitismus wird zweitens als neoliberal charakterisiert - in zwei miteinander korrespondieren Weisen. Die eine unterstellt, dass offene Grenzen unterm Strich ein Ziel kapitalistischer Verwertung seien, weil so der Preis der Ware Arbeitskraft dadurch, dass Lohnabhängige in Konkurrenz zueinander gesetzt werden, gedrückt werden kann. Die andere nimmt das auf, erweitert aber den Gedanken um eine Pointe: Wer also für offene Grenzen eintritt, bezeuge damit dann auch, dass er an der kapitalistischen Globalisierung ja gar nichts ändern wolle.

Das dritte wiederkehrende Motiv: Der Kosmopolitismus wird als die den Interessen und Bedürfnissen der Beschäftigten entgegengesetzte Denkweise hingestellt. Der Fehler der Kosmopoliten, der angeblichen »Gewinner der Globalisierung«, so die Behauptung, sei es, so etwa Heisterhagen, dass diese »nur noch Toleranz und Weltoffenheit gepredigt haben und alles andere darüber vergaßen«.

Grenzenlosigkeit, schrieben die Anti-Kosmopoliten, sei die »Geschäftsgrundlage der multinationalen Konzerne« (Stegemann/Wagenknecht). Sie ermögliche ihnen Steuervermeidung und andere Bereicherungstricks. Ist es indes nicht gerade umgekehrt, sind es nicht gerade die nationalstaatlichen Grenzen, die Wettbewerb um niedrigste Steuersätze ermöglichen, deren Existenz die Voraussetzung für internationale Steuertricks ist, die, gäbe es zum Beispiel eine europäische Besteuerung für Unternehmen, die in mehreren Ländern tätig sind, ausgeschlossen werden könnten? Und ist nicht gerade die Affirmation nationalstaatlicher Grenzen der beste Garant für die Fortexistenz sozialer Ungleichheit zwischen verschiedenen Volkswirtschaften und Sozialstaaten?

Es soll hier für kritisches Hinterfragen und Bedenken der Widersprüchlichkeiten geworben werden. Der marxistische Philosoph Wolfgang Fritz Haug hat 2009 einen Vorschlag gemacht. »Angesichts der realen Verhältnisse ist der Gedanke einer Weltbürgerschaft, die tatsächlich ihrem Begriff entspräche, auf den Status des virtuellen Gegenstandes eines idealistischen Diskurses verwiesen«, hieß es damals durchaus skeptisch. Denn »als real praktizierte ist Weltbürgerschaft gespalten - hier der gut gepolsterte partikulare Kosmopolitismus des transnationalen Kapitals, dort der Notkosmopolitismus der migrierenden Arbeitskräfte und der politischen Flüchtlinge«, so Haug.

Aber das sei ja noch kein Argument gegen Kosmopolitismus. Richtig sei zwar, dass jede zur Herrschaft drängende Klasse »nicht als Klasse, sondern als Vertreterin der ganzen Gesellschaft« auftritt, wie es in der »Deutschen Ideologie« heißt, daran erinnert Haug. Weshalb also auch »die Machtelite des transnationalen Kapitalismus nicht als das« auftritt, »was sie ist, sondern als Vertreterin der ganzen Menschheit«.

Doch dies »ideologiekritisch festzustellen, heißt keineswegs, den Kosmopolitismusdiskurs für dummes Zeug zu erklären. Sein idealistischer Überschuss tendiert über seine ideologische Funktion hinaus. Das Ringen darum, den ›Weltbürgerrechten‹ des globalen Proletariats Realität zuwachsen zu lassen und das Imperium zu zivilisieren, findet in diesem Überschuss Ansprüche, die das Imperium nicht negieren kann, ohne seine hegemoniale Bindekraft aufs Spiel zu setzen.«

Und weiter: »Die weltbürgerliche Idee geht daher ein Stück weit mit einem epochal herrschenden Interesse, dem des transnationalen Kapitals, konform. Ihr Idealismus entgeht nicht dem Widerspruch, auf kapitalistischer Welle möglichem Wirklichkeitsgewinn entgegenzureiten, doch das muss ihn nicht desavouieren. Wie, wenn nicht über die Nationalstaaten, soll ein, sei es auch schwaches, Weltbürgerrecht vordringen? Und welche Macht soll den kosmopolitischen Idealismus auf ihrem Rücken tragen, wenn nicht das transnationale Kapital in dem Maße, in dem es sich systemisch festsetzt und politisch-juristisch einbettet? Kosmopolitismus oder Weltbürgertum ist die Idee, der fragmentierte Kosmopolitismus der partiellen Globalisierung die Realität. In der Wechselwirkung der beiden ungleichen Instanzen wirkt sie, bei aller Zweideutigkeit, weiter, «the great civilising influence of capital», wie es bei Marx heißt.«

Was hier gesagt wird, steht sozusagen quer zum Anti-Kosmopolitismus, weil man sich nicht mit der schönen Einfachheit einer »neuen« Konfliktlinie begnügt, die schnell selbst zur Waffe in politischen Deutungskämpfen wird. Sondern es wird eine Widersprüchlichkeit des real existierenden Kapitalismus zur Kenntnis genommen, der man ohnehin nicht entfliehen kann.

Wer sich die wirtschaftspolitische Einhegung auf der Ebene des Nationalstaats vornimmt, wofür es gute Gründe gibt, kommt nicht umhin, die globale Form der Ökonomie mitzudenken, auf die progressive Veränderung abzielt. Das nicht zuletzt deshalb, weil linkes Agieren auf der nationalstaatlichen Ebene nicht davon absehen kann, dass die Spielräume, die man dort nutzen will, zu einem großen Teil aus der Aneignung eines globalen Reichtums resultieren, der woanders produziert wird, dessen Produktion woanders schwere ökologische, soziale und politische Folgen hat.

Die Welt mit den Augen des Anderen betrachten zu können und zu wollen, macht den eigentlichen Kern jeglichen kosmopolitischen Denkens aus. Wer etwa die europäische Krise und die nationalpopulistischen Erfolge in vielen Ländern verstehen will, muss sich nicht zuletzt auch damit beschäftigen, wie Deutschland die aus seiner ökonomischen Stärke folgende europäische Führungsrolle mit dem Durchsetzen eigener Ordnungsvorstellungen verwechselt hat, seit 2010 bei der Asylpolitik wie bei der Austeritätspolitik, und wie dies wohl auf Spanier, Griechen, Portugiesen, Italiener wirkte, die ihre Arbeitsplätze infolge der Sparpolitik verloren oder sich mit »den Flüchtlingen« allein gelassen fühlen, aber die deutschen Regierungsmitglieder, die diese Politik in Brüssel durchsetzen, nicht belangen können - oder eben bestenfalls indirekt, indem nationalistische, antieuropäische Parteien im eigenen Land gestärkt werden.

Aus solcher Art Blickwechsel würde für linkes Handeln zum Beispiel folgen können, dass - auch im wohlverstandenen nationalstaatlichen Interesse - die Antwort in einer qualitativen Stärkung einer europäischen Ökonomie des Teilens bestehen kann. Oder zumindest ein politisches Handeln, das sich immer wieder selbst kritisch befragt, ob es den unverzichtbaren moralischen Grundsätzen linken Handelns genügt: der Anerkennung der Gleichheit aller Menschen und ihres gleichen Rechts auf ein besseres Leben.

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