Neue Standards der Repression

Tausende Verfahren, Dutzende Freiheitsstrafen - die juristische G20-Aufarbeitung ist umfangreich und einseitig

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein Jahr nach den G20-Protesten scheint Hamburgs Innensenator Andy Grote zufrieden. Man habe einen »völlig neuen Standard« in der Verfolgung von Straftätern etablieren können, erklärte der SPD-Politiker kürzlich gegenüber Medien. Tatsächlich kann wohl von einer der umfangreichsten Fahndungen der Nachwendezeit gegen Linke ausgegangen werden. Großrazzien im In- und Ausland, mehrere Öffentlichkeitsfahndungen mit indirekter Unterstützung der Boulevardmedien, die Auswertung einer gigantischen Datenmenge mittels automatisierter Gesichtserkennung - alles unter Zuhilfenahme von, je nach Sichtweise, Hinweisen oder Denunziationen der Bevölkerung.

Speziell die Öffentlichkeitsfahndungen waren eine neue Erfahrung für viele Protestierer. Bürgerrechtsorganisationen warnten vor einem Angriff auf Persönlichkeitsrechte, geholfen hatte es nichts. »Die umfangreichen Online-Foto-Fahndungen zeigen eine neue Dimension der Vorverurteilung von Menschen«, sagt Britta Rabe vom Komitee für Grundrechte und Demokratie gegenüber »nd«. »Die vorgeworfenen Taten wie Plünderung und Sachbeschädigung stehen dazu in keinem Verhältnis und sollen nur vom polizeilichen Versagen ablenken.«

Rund 180 Mitarbeiter der Soko »Schwarzer Block« sind mit der Strafverfolgung - und der Aufdeckung von linken Organisationsstrukturen - beauftragt. Die Beamten führen noch immer 1060 Ermittlungsverfahren gegen 500 Tatverdächtige, von diesen sind bereits 104 identifiziert. Bei der Staatsanwaltschaft laufen aktuell 635 Verfahren gegen bekannte Verdächtige und 1254 gegen unbekannte. Bisher gab es 153 Anklagen, 84 Urteile und 36 Freiheitsstrafen, sechs davon ohne Bewährung.

Das Zwischenergebnis der 15-köpfigen Sonderkommission des Dezernats Interne Ermittlungen sieht vergleichsweise mager aus. Trotz zahlreicher dokumentierter Übergriffe wurden bislang nur 155 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte eingeleitet. Bis heute gibt es keine einzige Anklage, 52 Verfahren wurden eingestellt. »Demonstranten wird hier klar der grundrechtlich garantierte Schutz vor rechtswidrigen staatlichen Handlungen verwehrt«, erklärt Michèle Winker vom Komitee für Grundrechte und Demokratie.

Der Unmut über die fehlende Aufklärung ging so weit, dass Aktivisten einen »Außerparlamentarischen Untersuchungsausschuss« gründeten, der die Verfahren begleitete. Beobachter und Verteidiger kritisierten hierbei vor allem wiederkehrende Absprachen unter Polizeizeugen. Beamte aus Hessen hatten vor einem Prozess etwa Gelegenheit, Vernehmungsprotokolle von Kollegen zu lesen, ein Berliner Polizist soll einen Bericht, der im Widerspruch zu seinen Kollegen stand, manipuliert haben, und auch im Prozess um den Laserpointer-Beschuss eines Hubschraubers habe es unerlaubte Gespräche gegeben. »Absprachen von Aussagen unter Polizeibeamten vor Prozessen erleben wir immer wieder, sie haben in der Regel kein juristisches Nachspiel - so auch nicht in den Prozessen gegen G20-Gegner«, meint Rabe.

Zumindest in einigen Fällen konnten Gerichte die Rechtswidrigkeit von polizeilichen Maßnahmen bestätigen. Erst kürzlich wurde die Ingewahrsamnahme von italienischen Demonstranten beanstandet - man hatte sie schlicht festgesetzt, weil der Verfassungsschutz erklärt hatte, dass »Italiener im Rahmen des G20-Protestes Straftaten begehen könnten«. Das Hamburger Landgericht hatte Ingewahrsamnahmen weiterhin für teilweise unrechtmäßig erklärt, weil Protestierer zu spät einem Richter vorgeführt worden waren. Laut Gesetz muss dies innerhalb von zwölf Stunden passieren, in den besagten Fällen habe es jedoch bis zu 40 Stunden gedauert. Der sozialistischen Jugendorganisationen »Die Falken« hatte das Gericht bereits im vergangenen Jahr eine Rechtswidrigkeit von polizeilichen Maßnahmen bestätigt. 44 Businsassen, zum Teil minderjährig, waren stundenlang festgehalten worden, mussten sich ausziehen, am Körper durchsuchen lassen und wurden bei der Notdurft überwacht.

Eine besondere Rolle spielt der fünfmonatige Prozess gegen den Italiener Fabio V. Exemplarisch wurde in dem Verfahren gegen den 19-Jährigen, der fünf Monate in Untersuchungshaft saß, auch der umstrittene Polizeieinsatz am Rondenbarg verhandelt. Am Morgen des 7. Juli 2017 traf damals ein »Finger« mit Demonstranten auf die Polizei. Die Beamten zerschlugen rasch die Gruppe und beklagten, es habe einen »massiven Bewurf« gegeben. Bei der Flucht über ein Geländer stürzten mehrere Demonstranten und verletzten sich.

Fabio selbst konnte keine individuelle Tat vorgeworfen werden, doch seine bloße Anwesenheit sei eine »psychologische Unterstützung« der Gruppe gewesen, so die Staatsanwaltschaft. Das Hanseatische Oberlandesgericht verwies auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 2017, wo zwei Hooligans aufgrund eines »ostentativen Mitmarschierens« in einer Gruppe zu Landfriedensbruch verurteilt worden waren. Was man jedoch ignorierte: Der BGH hatte damals deutlich gemacht, dass der Fall nicht auf das Demonstrationsrecht übertragen werden kann. Da die Vorsitzende Richterin vor Abschluss des Verfahrens in den Mutterschutzurlaub ging, ist der Prozess geplatzt - die Hauptverhandlung muss nun von vorne beginnen. »Der gesamte Prozess gegen Fabio V. war ein Reinfall für Justiz und Staatsanwaltschaft«, sagt Winkler. »Die Anklage fiel mit jedem Prozesstag weiter in sich zusammen.«

Ein weiterer juristischer Disput entbrannte um die von der Polizei gleich zu Beginn zerschlagene linksradikale »Welcome to Hell«-Demonstration. Als Grund des Polizeieinsatzes wurde damals die Vermummung eines Teils der Demonstranten angeführt. Später kam heraus, dass Zivilpolizisten sich vermummt unter die Protestierenden gemischt hatten - und damit möglicherweise die Zerschlagung mit provoziert hatten. Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages erklärte: Polizeibeamten in Zivil ist es zwar grundsätzlich gestattet, sich bei Demonstrationen zu vermummen, sie dürfen aber nicht den Anlass für eine Auflösung liefern. Dazu müssen sie sich der Versammlungsleitung zu erkennen geben. »Die Anwesenheit vermummter verdeckter Ermittler der sächsischen Polizei im schwarzen Block der ›Welcome to Hell‹-Demo wurde von Gerichten als unproblematisch bewertet«, erklärt Rabe. »Es fällt äußerst schwer, diese Diskrepanz zum Gutachten des Bundestages nicht als politisch motiviert zu deuten.«

Während in der juristischen Aufarbeitung noch viele Fragen unbeantwortet bleiben, sendet Hamburgs Innensenator Andy Grote eine »klare Botschaft« an die linke Szene: Niemand soll sich sicher fühlen. »Wir werden auch Monate oder Jahre später noch Konsequenzen sehen.«

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