Erst die Stürme, jetzt der Käfer

Im Harz bieten große Flächen derzeit keinen schönen Anblick, doch die Fichtenmonokultur soll ohnehin verschwinden

  • Sabrina Gorges, Drei Annen Hohne
  • Lesedauer: 6 Min.

Jens Ackert startet den Entrinder. Kreischende Geräusche, ähnlich einer Kettensäge, hallen durch den Wald. Immer wieder schabt der Forstwirt mit dem Spezialgerät auf dem Stamm der umgestürzten Fichte entlang. Kleingeraspelte Rindenteile fliegen umher, es staubt gewaltig. Ackert trägt Schutzkleidung, einen Helm sowie Augen- und Ohrenschutz.

Zwei Kollegen arbeiten an anderen Stämmen. Gut fünfeinhalb Kilo wiegt der Entrinder, Arbeit und Umgang mit ihm sind ein Kraftakt. »Das Schälen ist das Anstrengendste, aber auch das Sinnvollste«, sagt der 47-Jährige, der seit 30 Jahren im Wald und seit dessen Bestehen im Nationalpark Harz arbeitet. Das Entrinden ist sinnvoll im Kampf gegen winzige Plagegeister, die den alten, standortuntypischen Fichtenmonokulturen in dem länderübergreifenden Großschutzgebiet zusetzen: Borkenkäfer.

Aus Totholz soll Waldwildnis werden

Der Nationalpark Harz in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen ist 24 740 Hektar groß. 60 Prozent des Großschutzgebiets sind Naturdynamikzone, wo der Mensch nicht mehr in die Waldentwicklung eingreift. Bis 2022 soll der Wildnisanteil auf 75 Prozent steigen. In dieser Zone bleiben abgestorbene Bäume im Wald einfach liegen. Das Totholz bildet laut Nationalparkverwaltung eine wichtige Grundlage für die neue Waldwildnis. Rund ein Drittel der im Harz vorkommenden Arten braucht Totholz zum Leben, insbesondere Pilze, Insekten und Mikroorganismen.

Viele Käfer sind auf Holz in verschiedenen Zerfallstadien angewiesen, ebenso Wildbienen, Vögel und Fledermäuse. Sie ziehen im Schutz des Totholzes ihren Nachwuchs auf oder nutzen es als Wohn- und Winterquartier. Zwischen den liegenden Stämmen wachsen Jungbäume zudem geschützt vor hungrigen Wildtieren. Und Sämlinge verschiedener Baumarten sprießen gern direkt auf morschen Stämmen. dpa/nd

Eigentlich ist der Käfer ein »Sekundär-Schädling«, der nur vorgeschädigte Bäume befällt. Doch kommt es unter bestimmten Bedingungen wie hohen Temperaturen und großer Trockenheit zur Massenvermehrung. Dann wird das Tierchen aus forstwirtschaftlicher Sicht zum Primär-Schädling, der auch gesunde, stehende Bäume heimsucht.

Es ist Ende Juni. Längst hat es sich der an Fichten lebende Käfer, auch Buchdrucker genannt, zwischen Baum und Borke bequem gemacht. Ackert hebt mit einem langstieligen Handschälgerät ein Stück Rinde an. »Der macht sich bald auf die Socken«, sagt er und nickt mit dem Kopf in Richtung Stamm. Das feingliedrige Fraßbild ist ebenso eindeutig wie beeindruckend.

Mit der Fingerspitze pult der Forstwirt in einer sogenannten Rammelkammer herum, in der er einen hellbraunen Jungkäfer entdeckt hat. Er ist kaum größer als ein Stecknadelkopf. Es ist die erste Generation des Jahres, mit viel Pech folgen noch zwei weitere. Aber: »Wenn die Rinde runter ist, ist Schluss.« Soll heißen, der Nachwuchs vertrocknet.

Sabine Bauling ist stellvertretende Nationalparkleiterin und verantwortet den Fachbereich Waldentwicklung, Wildbestandsregulierung und Borkenkäfer-Management. Jedes Jahr schlagen sie und die Waldarbeiter aufwendige Schlachten gegen den Käfer, der vom sogenannten Wundduft beziehungsweise Welkgeruch des absterbenden Holzes angezogen wird und dort dann seine Brut ablegt.

Es muss verhindert werden, dass der Schädling auf das gesunde Holz übergeht oder in angrenzende Wirtschaftswälder abwandert. Besonders gewissenhaft erfolgt die Borkenkäfer-Bekämpfung in einem 500 Meter breiten Streifen an den Außengrenzen des Nationalparks. So weit, so routiniert. Doch dieses Jahr ist alles anders.

»Xavier«, »Herwart« und »Friederike« haben im vergangenen Herbst und Winter schwer im Nationalpark Harz gewütet. Die Stürme, die sich zeitweise zu Orkanen auswuchsen, ließen 30 bis 40 Meter hohe Fichten in Massen wie Streichhölzer umkippen. »Als Flachwurzler können sie harten Böen nichts entgegensetzen«, erklärt Bauling. »Die Feinwurzeln reißen ab, es kommt zu Wurzelbrüchen und die Hebelwirkung tut ihr übriges. Die Natur ist gnadenlos.«

Was Anfang Oktober 2017 mit »Xavier« begann, fand in mehrtägigen Oststürmen im März dieses Jahres seinen vorläufigen Höhepunkt. Seit gut acht Wochen wird aufgeräumt, bis dahin lag noch Schnee.

Martin Bollmann leitet das etwa 1800 Hektar große Revier »Hohne«, eines von zwölf Nationalparkrevieren in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. »Hohne«, durch das die am stärksten frequentierten Wanderwege auf den 1141 Meter hohen Brocken führen, hat es besonders hart getroffen. »99 Prozent Fichte«, stellt Bollmann fest und zieht die Augenbrauen hoch. »Und mehr als die Hälfte älter als 50 Jahre.«

Ungefähr 900 Hektar des »Hohne«-Reviers - also gut die Hälfte - sind Naturentwicklungszone. »Hier führen wir, anders als in der übrigen Dynamikzone, noch für eine überschaubare Zeit Waldentwicklungsmaßnahmen durch«, sagt der 53-Jährige. Und obwohl die Entwicklungszone somit ein Auslaufmodell ist, müssen die aktuellen Sturmschäden von Menschenhand beseitigt werden.

Bollmanns Revier erstreckt sich auf Lagen von 550 bis etwa 900 Höhenmeter. Vor allem oben sind längst »naturdynamisch«, überall sonst wird der Wildnis noch auf die Sprünge geholfen. Rechts und links der Wege sieht man aus Baumstümpfen bestehende Kahlflächen oder umgestürzte, instabile und hochgradig vom Umfallen bedrohte Fichten. Den Blick in den Wald versperren teils riesige, aus dem Erdreich gehobene Wurzelteller. »Das Skelett des Reviers ist arg in Mitleidenschaft gezogen«, sagt Bollmann. »Früher gab es meist Wind aus westlicher Richtung. Mittlerweile fegt er aus allen Ecken mit großer Wucht hier durch.«

Rund 17.000 Kubikmeter Holz haben die Stürme im Verlaufe eines halben Jahres in der Entwicklungszone des Bollmann’schen Reviers einfach umgeweht. »Das ist beinahe das Doppelte meines üblichen Jahresvolumens.« Im 500-Meter-Borkenkäfer-Schutzstreifen in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen sind es laut Vize-Parkleiterin Bauling mehr als 120.000 Kubikmeter. Das in diesem Zusammenhang oft benutzte Wort »Schadholz« kommt keinem der Verantwortlichen im 25.000 Hektar großen Nationalpark über die Lippen. »Das gibt es bei uns nicht. Wir sind kein Wirtschaftswald und sprechen deshalb von Windwurfholz«, erklärt Bauling.

In ganz Sachsen-Anhalt wehte allein Orkantief »Friederike« am 18. Januar nach Angaben des Umweltministeriums mehr als zwei Millionen Kubikmeter Holz um. In den betroffenen Gebieten lag oder liegt noch immer das Drei- bis Vierfache der normalen Einschlagsmenge eines Jahres am Boden. Auf dem Brocken wurden in der Spitze Windgeschwindigkeiten von 205 Stundenkilometer gemessen - das ist Orkanstärke. In Niedersachsen war vor allem der Süden betroffen. Laut Landesforsten riss »Friederike« dort allein im Landeswald mehr als eine Million Kubikmeter Holz um.

Die Wege von Wanderern und Fahrradfahrern im Nationalpark Harz werden in diesen Wochen immer wieder von Holztransportern gekreuzt. Die werden »Borkenkäfer-Taxen« genannt, weil sie jenen Schädling aus dem Wald in Säge- und Zellstoffwerke oder zu Lagerplätzen bringen. Der Holzmarkt ist momentan gesättigt - Windbruch und Borkenkäfer haben ihn mächtig durcheinandergewirbelt. Um das Sturmholz nicht auf einen Schlag zu niedrigen Preisen auf den Markt werfen zu müssen, wird an zahlreichen Stellen zwischengelagert, etwa in Steinbrüchen oder angemieteten Hallen. Wichtig ist: Die Stämme müssen aus dem Wald heraus, wenn sie nicht geschält sind. Hauptbaumart im Nationalpark wäre von Natur aus die Rotbuche. »Knapp zwei Drittel der Fläche sind potenzielle Laubbaumstandorte«, sagt Parksprecher Friedhart Knolle. Aktuell steht aber nur auf etwa 20 Prozent der Fläche Laubwald. Der Grund: »Die mehr als 3000-jährige Montangeschichte im Harz schlägt sich noch heute in strukturarmen, monotonen Fichtenwäldern nieder.« An neuer Waldstruktur wird mit viel Akribie gearbeitet. »Bis mindestens 2022 bleibt das eine Kernaufgabe«, so Knolle. Dann soll der Wildnisanteil in der Dynamikzone bei 75 Prozent liegen.

Dass der alte Fichtenbestand unter den jetzigen Umständen schneller zurückgeht als gedacht, ist nicht schlimm. »Der Blick in die Zukunft ist gar nicht so traurig«, sagt Bauling. »Die Sturm- und Orkantiefs haben den Prozess der Waldumwandlung extrem beschleunigt.« Für Hans-Ulrich Kison, Botaniker, Naturschützer und bis 2016 stellvertretender Nationalparkleiter, sind wir gar alle »Zeitzeugen einer Waldentwicklung historischen Ausmaßes«. Kison muss es wissen, denn er leitete auch den Fachbereich Naturschutz, Forschung und Dokumentation. »Für manche ist es das Ende des Waldes, für uns ist es ein wunderbarer Anfang.«

Wenn Ackert und seine Kollegen mit dem Stammschälen fertig und die Bäume zersägt und abtransportiert sind, wird auf der lichten Fläche mit der Aufforstung begonnen. Kleine Laubbäume brechen die Monotonie nachhaltig auf. »In die Erde kommen vor allem Buchen, aber auch Bergahorn, Erle, Aspe und einige Sträucher«, sagt Bauling. Im vergangenen Jahr wurden im Nationalpark rund 670.000 Mini-Laubbäume gepflanzt - 80.000 mehr als 2016. dpa/nd

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