Urlaub - oder Urlaub für immer?

Präsidentin des Obersten Gerichtshofs in Polen widersetzt sich weiter ihrer Pensionierung

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 4 Min.

Ist Małgorzata Gersdorf einfach nur im Urlaub oder ist die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs im Ruhestand? Über diese Frage herrscht seit Anfang dieser Woche Verwirrung in Polen, widersprüchliche Nachrichten und Erklärungen stehen nebeneinander.

Polens Präsident Andrzej Duda hatte Gersdorf am Dienstagnachmittag erklärt, dass sie für ihn bereits im Ruhestand sei. Das umstrittene Gesetz, auf das er sich bezieht, schickt 27 der mehr als 70 Richter am Obersten Gerichtshof in den Zwangsruhestand, weil sie älter als 65 Jahre sind. Bisher lag die Altersgrenze bei 70 Jahren. Als Interimspräsident des Obersten Gerichts ernannte er Jozef Iwulski. Gersdorf erklärte daraufhin, sie ernenne Iwulski zu ihrem Vertreter während ihrer »Abwesenheit«. Und protestierte gegen die Entscheidung der nationalkonservativen Regierung, indem sie am Mittwoch ihrer Pensionierung trotzte, ihr Büro aufsuchte und ein Treffen des Gerichtskollegiums leitete. Sie mische sich nicht in die Politik ein, erklärte sie. Für die Rechtsstaatlichkeit in Polen wolle sie aber kämpfen und »die Grenze zwischen der Verfassung und dem Verstoß gegen die Verfassung aufzeigen«. Den Zwangsruhestand bezeichnete sie als »politische Säuberung«.

Dem würde der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki (PiS) vielleicht nicht einmal widersprechen. Am Mittwoch verteidigte er vor Europaparlamentariern in Brüssel die Justizreformen: Sie seien Teil des Kampfes »gegen das Erbe des Kommunismus«. Kritik der Abgeordneten verbat er sich scharf: »Erteilen Sie uns keine Lehren«, erwiderte er der teils massiven Kritik der Parlamentarier. Die EU und ihre Institutionen geben derweil ein widersprüchliches Bild ab: Auf der einen Seite laufen Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit sowie Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen, wird die Kritik aus Parlament und Kommission deutlich vernehmbarer. Auf der anderen Seite dräut immer mehr die Erkenntnis, dass es vielleicht schon viel zu spät sei: Der Sündenfall heißt nämlich nicht Polen ab 2015 unter der PiS, sondern Ungarn unter Fidesz seit 2010. Der Staatsumbau dort und im Speziellen der Umbau des Justizsystems gingen vonseiten der EU ohne größeren Widerstand vonstatten. Man mag der EU und ihren Institutionen Lernfähigkeit unterstellen, einen zweiten Fall Ungarn nicht zuzulassen. Man kann sich allerdings auch fragen, ob Fidesz - unter dem Dach der konservativen Europäischen Volksparteien, zu der unter anderem CDU und CSU gehören - vor allem gegenüber der Kommission, die sich auf die Konservativen im Europaparlament stützt, derzeit anders als die PiS, die nicht zur EVP gehört, noch unangreifbar ist.

Die »Gazeta Wyborcza« kommentierte am Donnerstag in Bezug auf Europa und Morawickies Auftritt in Brüssel, der Premier habe dort eine Niederlage erlitten, »weil die EU aus ihren Fehlern lernt«, vor allem nach den Erfahrungen mit Viktor Orbans Ungarn. »Welchen Sinn hat eine Wertegemeinschaft, die nicht von ihren Mitgliedern wertgeschätzt wird? Und daraus zieht die EU ihre Schlüsse«, so die in Warschau erscheinende Zeitung.

In Polen selbst gehen die Proteste gegen die Justizreformen weiter. Auch am Freitag harrten Demons-tranten vor dem Obersten Gericht in Warschau aus und forderten die Richter zum Bleiben auf, berichtete das ARD-Studio in Warschau. Am Mittwoch schloss sich auch der polnische Ex-Präsident und Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa den Demonstranten am Obersten Gericht an. Er sei zum Obersten Gerichtshof gekommen, um »die Unabhängigkeit der Justiz zu verteidigen«, sagte Wałęsa in Richtung der Demonstranten gewandt. »Wenn es sein muss«, werde er mehr als einmal wiederkommen, kündigte er ebenfalls an. Allerdings haben die Proteste nicht das Ausmaß jener des vergangenen Sommers erreicht, an dessen Ende ein Veto Dudas den Umbau des Justizsystems in Teilen verzögerte.

Derweil geht die juristische Hängepartie weiter: Der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro bekräftige am Donnerstag noch einmal den Zwangsruhestand Gersdorfs unter Verweis auf Artikel 180 der polnischen Verfassung, aus dem »eindeutig« hervorgehe, dass das Pensionsalter für Richter in der allgemeinen Gesetzgebung festgeschrieben sei. Gersdorf habe keine Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz eingelegt. Und nur das Verfassungsgericht könne darüber befinden, ob das neue Gesetz verfassungsgemäß sei oder nicht. Gersdorf wiederum verweist auf Artikel 183 der Verfassung, der ihre Amtszeit auf sechs Jahre festlegt und die damit turnusmäßig bis 2020 läuft. Und jenes Verfassungsgericht? Das ist keine Institution, »die jemand außerhalb des Regierungslagers ernsthaft anrufen würde - auch nicht im Streit um das Oberste Gericht, bei dem es zentral um Verfassungsfragen geht«, so die korrekte Einschätzung des ARD-Korrespondenten Jan Pallokat - das hat die polnische Regierung nämlich längst umgebaut. mit Agenturen

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