Mindestlohn im Schneckentempo

Bis zur Gewährleistung eines Rentenanspruchs oberhalb der Grundsicherung ist es noch ein weiter Weg

  • Otto König und Richard Detje
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Mindestlohnkommission hat empfohlen, die gesetzliche Lohnuntergrenze zum 1. Januar 2019 von 8,84 Euro auf 9,19 Euro und ab dem 1. Januar 2020 auf 9,35 Euro zu erhöhen. Das entspricht einer Anhebung um 5,8 Prozent, verteilt auf einen Zeitraum von zwei Jahren. Die Bundesregierung muss diese Empfehlung noch per Verordnung umsetzen.

»Die Beschäftigten werden nun an der guten Lohnentwicklung der letzten Jahre teilhaben«, so DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell. Für alle, die mit dem Mindestlohn zurechtkommen müssen, zähle »jeder Cent«, »dem hätten die Gewerkschaften durch die Einbindung der neusten Tarifabschlüsse Rechnung getragen.« Trotz dieser positiven Einschätzung bleibt das Grundproblem: Der Mindestlohn ist zu niedrig.

Die Autoren

Otto König ist Mitherausgeber, Richard Detje ist Redakteur der monatlich in Hamburg erscheinenden Zeitschrift »Sozialismus«. König war bis 2010 1. Bevollmächtigter der IG Metall-Verwaltungsstelle Gevelsberg-Hattingen und Mitglied im Vorstand der IG Metall. Detje ist Geschäftsführer des Vereins »WISSENTransfer – Wissenschaftliche Vereinigung für Kapitalismusanalyse und Gesellschaftspolitik«. Die Zeitschrift »Sozialismus« versteht sich als Forum für die Debatte der gewerkschaftlichen und politischen Linken. Der hier dokumentierte Text erschien zuerst auf der Webseite von »Sozialismus«.

Die Kommission, bestehend aus je drei Vertretern der Arbeitgeber und Gewerkschaften sowie zwei beratenden Wissenschaftlern, orientiert sich ihrer Geschäftsordnung zufolge an der Entwicklung der tariflichen Stundenverdienste der zurückliegenden zwei Kalenderjahre 2016 und 2017. Der entsprechende tarifliche Index des Statistischen Bundesamtes ist in diesem Zeitraum um 4,8 Prozent gestiegen. Entsprechend hatte die Bundesbehörde schon im Januar 2018 angedeutet, dass sich daraus eine Steigerung des Mindestlohns auf 9,19 Euro ergeben könne. Der Deutsche Gewerkschaftsbund weist angesichts der konjunkturellen Entwicklung darauf hin, dass eine stärkere Erhöhung möglich und nötig ist.

Tatsächlich geht der Vorschlag der Kommission etwas über den »Regelfall« hinaus. Wie bei der vorangegangenen Anpassung 2017 wurden auch dieses Mal die guten Tarifabschlüsse in der Metall- und Elektroindustrie und des Öffentlichen Dienstes in den Tarifrunden vom Frühjahr dieses Jahres in die Rechnung einbezogen, obgleich sie nicht in den vorgegebenen Zweijahreszeitraum fallen. Dieser positive Effekt wurde jedoch auf das Jahr 2020 verschoben. Faktisch wurde somit aus der zweijährlichen eine jährliche Anpassung des Mindestlohnes.

»Dass die Gewerkschaften überhaupt mehr durchsetzen konnten, als das Statistische Bundesamt vorgerechnet hatte, hängt zweifellos mit der Politisierung des Themas zusammen«, schätzt Reinhard Bispinck ein, der frühere Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Dazu beigetragen hätten wohl die sozial-, verteilungs- und makroökonomischen Argumente, wie sie beispielsweise das WSI und das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, das ebenfalls zur Böckler-Stiftung gehört, in einer gemeinsamen Stellungnahme bei der Anhörung durch die Mindestlohnkommission vorgetragen hätten.

Die erstmals vorgenommene zweistufige Erhöhung begründete der Vorsitzende der Kommission, RWE-Arbeitsdirektor Jan Zilius, mit einem Verweis auf den Trend, dass auch Tarifabschlüsse zunehmend längere Laufzeiten mit mehrstufigen Lohnzuwächsen beinhalten würden. Die Kommission prüfe »im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden.«

Ob diese Änderung auch in Zukunft beibehalten wird, ist noch nicht ausgemacht. So betonte der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes BDA, Steffen Kampeter, als Vertreter in dem Gremium, die Arbeit der Kommission sei eine »regelgebundene Veranstaltung, und wir haben uns an die Regeln gehalten«. Die Kommission hat sich darauf geeinigt, dass der Tarifabschluss des öffentlichen Dienstes vor der Mindestlohnanpassung 2021 wieder herausgerechnet wird. Die Basis der Anpassung beträgt dann 9,29 Euro statt 9,35 Euro. Dies wäre ein kleiner Fortschritt gegenüber 2017, da der Effekt des Tarifabschlusses in der Metallindustrie erhalten bliebe.

Fakt ist: Von steigenden Löhnen profitieren vor allem Beschäftigte in tarifgebundenen Betrieben. Zugleich wächst seit den 1990er Jahren der Niedriglohnsektor in Deutschland, der mittlerweile zu den größten in Europa gehört. Fast jeder vierte Beschäftigte verdiente 2015 weniger als 10,22 Euro und lag damit unter der Niedriglohnschwelle. Minijobber, gering Qualifizierte, junge und ausländische Beschäftigte arbeiten besonders häufig unter dem Regime von niedrigen Löhnen. Dieser Trend wird durch das gezielte Outsourcing von Dienstleistungen wie Kantinen, Reinigung oder die Wartung von Anlagen, alles einst Bestandteile von Industriebetrieben, noch zusätzlich verstärkt.

Nach langen politischen Auseinandersetzungen, begleitet von gewerkschaftlichen Kampagnen, wurde 2015 als Gegenmaßnahme erstmals ein gesetzlicher, flächendeckender Mindestlohn auch in Deutschland eingeführt. Damit sollte gegenüber ausbeuterischen Lohndumpingverhältnissen eine untere Grenze der Entlohnung gezogen werden. Eine rationale Begründung für die 8,50 Euro, mit der der Mindestlohn im Januar 2015 startete, gab es nicht. Es waren vor allem das jahrelange Dauerfeuer der Lobbyisten der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände und deren medial verbreitete Warnungen, der Mindestlohn werde Arbeitsplätze vernichten und die Wirtschaft schädigen, die zu diesem sehr niedrig angesetzten Betrag führten. Neoliberale Untergangspropheten hatten bis zu 900 000 Arbeitsplätze als gefährdet gesehen, wenn der Mindestlohn eingeführt würde.

2017 wurde der Mindestlohn erstmals angehoben - von 8,50 Euro um 34 Cent auf aktuell 8,84 Euro. In ihrem 2. Mindestlohnbericht stellt die Kommission fest: Der Mindestlohn habe »zu deutlichen Steigerungen des Stundenlohns am unteren Rand der Stundenlohnverteilung geführt«, insbesondere für Beschäftigte in Ostdeutschland und in Kleinbetrieben, geringfügig Beschäftigte, gering Qualifizierte und Frauen. Damit wurde ein wichtiges Ziel des Mindestlohns zumindest im Ansatz erreicht.

Alle hysterischen Prognosen über die vermeintlich katastrophalen Beschäftigungswirkungen der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns haben sich nicht bestätigt. Je nach Untersuchungsmethode wird der Mindestlohn-Effekt mit einem Minus von null bis 80 000 Stellen in Verbindung gebracht. Was jedoch den Journalisten Dietrich Creutzburg in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« nicht davon abhält zu orakeln: »Dass der Konjunkturaufschwung der vergangenen Jahre die Negativfolgen des 2015 eingeführten Mindestlohns bisher überdeckt, erlaubt jedenfalls keine Voraussage, dass der Arbeitsmarkt künftig beliebige Lohnkostensteigerungen einfach wegsteckt.«

Die Forscher des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) schreiben in ihrer Stellungnahme für den Bericht der Mindestlohnkommission: »Insgesamt hat sich die sehr günstige Entwicklung des Arbeitsmarkts auch nach Einführung des Mindestlohns fortgesetzt.« Nach Erkenntnissen des IAB habe es in dieser Zeit zwar einen Rückgang der geringfügigen Beschäftigung gegeben, allerdings könne dieser »zu einem erheblichen Teil« darauf zurückgeführt werden, dass diese Jobs in sozialversicherungspflichtige Stellen umgewandelt worden seien.

Die Mindestlohnkommission stellt fest, dass der Mindestlohn zweifelsohne »zu deutlichen Steigerungen des Stundenlohns am unteren Rand der Stundenlohnverteilung geführt« hat - dies »insbesondere für Beschäftigte in Ostdeutschland und in Kleinbetrieben«. Aber er ist immer noch viel zu niedrig, um einen »angemessenen Mindestschutz« zu bieten und vor Altersarmut zu schützen. Im Vergleich zu westeuropäischen Ländern bleibt selbst der für 2020 vorgesehene Betrag von 9,35 Euro hinter den aktuellen Mindestlöhnen in Belgien (9,47 Euro), Irland (9,55 Euro), Niederlande (9,68 Euro), Frankreich (9,88 Euro) und Luxemburg (11,55 Euro) zurück.

Nach Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des DGB reicht der Mindestlohn bei einem vollzeitbeschäftigten Single in 16 von 20 Großstädten nicht aus, um ohne Aufstockungsleistungen leben zu können. Besonders problematisch sind die Auswirkungen auf die Altersversorgung: Das Bundesarbeitsministerium hat kürzlich festgestellt, dass erst mit einem Mindestlohn von 12,63 Euro ein Rentenanspruch oberhalb der Grundsicherung gesichert ist. Reinhard Bispinck weist zurecht darauf hin, dass es selbst bei einer jährlichen Steigerung um 2,5 Prozent bis 2030 dauern würde, um die Zwölf-Euro-Marke zu erreichen. Die ausschließliche Regelbindung der Mindestlohnanpassung erweise sich mit Blick auf dieses Ziel offenkundig als Sackgasse. Deshalb führe kein Weg daran vorbei, über neue Strategien in der Mindestlohnpolitik zu diskutieren.

Hinzu kommt, dass zahlreiche Arbeitgeber die gesetzliche Vorgabe umgehen. Über die Zahl der Verstöße gegen das Mindestlohngesetz gab es in der Kommission zwischen Vertretern der Gewerkschaften und den Arbeitgebern Differenzen: Während die Arbeitgeber unter Berufung auf Betriebsbefragungen des Statistischen Bundesamts von 750 000 Beschäftigten ausgehen, die gesetzeswidrig weniger als den Mindestlohn erhalten, sprechen die Gewerkschaften von fast 2,2 Millionen Menschen, denen die Lohnuntergrenze vorenthalten wird. Um besser gegen die Tricks der kriminellen Arbeitgeber vorgehen zu können, fordert der DGB von der Bundesregierung u.a. eine bessere personelle Ausstattung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) um mindestens 10 000 Stellen. Bisher verfügt die FKS über rund 7200 Stellen. Zudem sollen Schwerpunkt-staatsanwaltschaften und Gerichte eingerichtet werden. Künftig soll der Arbeitgeber nachweisen müssen, wie lange Beschäftigte gearbeitet haben.

Arbeitnehmer würden von einer Beweislastumkehr bei der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit profitieren. Den Kontrolleuren würde es vor Ort in den Betrieben helfen, wenn es eine Aufbewahrungspflicht von Unterlagen für Arbeitgeber am Arbeitsplatz gäbe. Da Meldebescheinigungen und Arbeitszeitprotokolle oft nicht am Tätigkeitsort gelagert sind, ist eine zeitnahe Kontrolle kaum möglich.

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