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Besser mit Behinderung studieren als gar keinen Spaß

Wie man als Rollstuhlfahrer seinen Weg zum Doktortitel gehen kann.

  • Karsten Lippmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Den Untertitel verdankt dieser Text Peter Frenkel, dem Olympiasieger im 20-km-Gehen von 1972. Er war einer der Zeitzeugen für meine Dissertation, und man kann sagen, dass wir inzwischen auch Freunde sind. Als die Buchversion meiner Arbeit im Januar dieses Jahres im Olympia-Museum in Köln vorgestellt wurde, bat auch ich die anwesenden Sportler um eine Unterschrift und eine kurze Signatur. »Geh’ deinen Weg«, schrieb Peter, und ich finde das sehr passend.

Das Ende der Geschichte ist damit erzählt, und es wird Zeit, zu ihrer Mitte zu springen. Dort steht der Satz: »Dann würde ich sagen, Sie fangen an.« Gesprochen wurde er von einem Leipziger Professor im Februar 2008. Damals war ich an einem Punkt angelangt, vor dem das Studium für die meisten bereits beendet ist: Wir hatten uns auf ein Thema für meine Dissertation geeinigt.

Muss ich erwähnen, dass von irgendeiner Form der Bezahlung durch den Lehrstuhl oder die Uni keine Rede war? Geisteswissenschaftliche Arbeit ist schließlich eine so lohnende Sache, dass das als Antrieb völlig ausreicht. Zum Glück waren meine Eltern gerne bereit und in der Lage, meine geistigen Abenteuer zu finanzieren.

Ich kenne die bösartigen Gerüchte, nach denen Studierende kellnern oder Doktoranden sich so in das Labyrinth der Bundespolitik verstricken, dass sie ihre Dissertation nicht mit Anstand zu Ende bringen und später als Verteidigungsminister zurücktreten müssen. Das kann aber alles gar nicht wahr sein - Deutschland ist schließlich »eine Bildungsrepublik«, sagt Frau Merkel.

Doch neben dem Studium »sachfremde Tätigkeiten« auszuführen, seien sie nun nützlich oder überflüssig, war für mich sowieso nicht möglich. Seit meiner Geburt bin ich spastisch gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen. Trotzdem entschied ich schon sehr früh zu studieren. Das hatte erstens mit meinem Interesse für Geschichte zu tun und zweitens damit, dass ich die Grenzen meiner beruflichen Möglichkeiten begriff. Und schließlich legte ich im Jahr 2002 ein sehr gutes Abitur ab.

Wie schwierig die Dinge trotzdem sind, begriff ich bei einem Gespräch in der Agentur für Arbeit. Die Mitarbeiterin belehrte mich, dass zur Umsetzung meiner Pläne ein Abitur notwendig sei. Ich verwies auf mein Zeugnis. Sie schien betroffen. »Wo wollen Sie denn hin?«, fragte sie schließlich. »Berlin, HU.«, antwortete ich. »Wieso das?« »Da lehren einige Professoren, bei denen ich mir eine Promotion vorstellen kann.« Ich nannte Namen. Trotzdem war ihr Urteil über meinen Geisteszustand unverändert. - »Zu Berlin kann ich Ihnen nicht raten. Der Campus liegt sehr verstreut.« »Welcher?«, fragte ich. »Alle.«

Dann griff sie schnell und wortlos zu einer Broschüre. Darauf waren allerhand schematisierte Figuren abgebildet, die handwerkliche Arbeiten verrichteten. Ich zeigte auf einen Schornsteinfeger und begann zu lachen: »Ist das Ihr Ernst?« Sie überlegte merkbar, was gerade so komisch sei, und unterwies mich dann: »Na, dafür kommen Sie natürlich nicht infrage. Aber wir vermitteln viele Schwerbehinderte in solche Maßnahmen. Kommen Sie in einem Jahr wieder, dann sind Sie langzeitarbeitslos und haben da gute Chancen.«

Nach dieser Beratung entschied ich mich doch lieber für ein Grundstudium in Magdeburg. Das liegt nahe an meinem Wohnort und ich hielt es behinderungsbedingt für nötig, an Unitagen dorthin zu pendeln. Ich selbst kann jedoch kein Kraftfahrzeug führen und auch keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Das örtliche Sozialamt bewilligte schließlich einen Fahrdienst. Diese Unterstützung musste jedoch für jedes Semester neu beantragt werden, und zwar unter Vorlage meines Studienplanes.

Deshalb war ich entschlossen, mein Grundstudium schnell zu absolvieren. In Magdeburg begegneten mir, wie auch später in Leipzig und in Köln, ganz überwiegend sehr freundliche Lehrkräfte. Trotzdem gab es auch merkwürdige Vorfälle: Nach dem Blick auf meinen Stundenplan strich beispielsweise der Leiter eines meiner Seminare im ersten Semester einfach Veranstaltungen heraus. Ungefragt sagte er mir, sonst sei das zu viel für mich. Allerdings fügte er gleichzeitig auch seine eigene Vorlesung ein. Ich entgegnete: »Erstens: Was mir zu viel wird, bestimme ich, nicht Sie. Zweitens ist Ihnen sicher aufgefallen, dass der Plan genau auf doppeltes Standardtempo ausgelegt ist. Das hat damit zu tun, dass ›mein‹ Sozialamt mir für jedes Semester die Fahrtkosten bewilligen soll und unklar ist, wie lange es das tun wird. Sie haben mir soeben den Plan auf Normaltempo gekürzt. Soll ich das als Angebot verstehen, Ihrerseits meine Fahrtkosten für zwei Semester zu übernehmen?« Er war überrascht; mein Plan blieb, wie ich ihn gemacht hatte, und wurde auch umgesetzt.

»Von innerer und äußerer Freiheit. Eine Zensur findet nicht statt.« - Bis zu dieser Stelle war ich in einem Text gekommen und ging dann zu Bett. Albträumend fand ich mich in einem Zimmer der Agentur für Arbeit wieder. Eine Mitarbeiterin hielt mir diesen Artikel vor: »Wieso schreiben Sie solche Sachen?« - »Weil sie wahr sind«, antwortete ich. »Der dümmste aller Gründe«, beschied sie. Ich erwachte.

Der Leser, der vermutet: »Der hat leicht reden. Sein Weg zum Doktortitel war nicht einfach, aber jetzt hat er bestimmt einen guten Job«, irrt sich. Ich könnte, wie fast jeder oder jede, bald auf die Agentur für Arbeit angewiesen sein. Wäre es also nicht besser, eine andere Begebenheit vorzutragen? Wie wäre es mit der Solidaritätsaktion für das Personal im »akademischen Mittelbau« an der HU? Normalerweise meide ich Demonstrationen, weil ich schwer »Schritt halten« kann. Doch der SDS, die Studentenorganisation der Linkspartei, diskutierte nicht: »Diesmal kommst du mit. Du könntest ja auch betroffen sein.« Einer half mir immer, dass ich mitkam. Das war eine schöne Erfahrung.

Aber hätte ich wirklich betroffen sein können? Ich erinnerte mich an meine Bewerbung um eine Doktorandenstelle bei einem großen deutschen Forschungsinstitut: Es war, wie es in unserer »Bildungsrepublik« inzwischen schlechter Brauch ist, eine halbe Stelle, entsprechend dürftig bezahlt und auf zwei Jahre befristet, doch immerhin. Fachlich war ich der beste Bewerber, wie ich sicher weiß. Aber als Rollstuhlfahrer bekam ich den Job nicht. Mit Diskriminierung hatte das, natürlich, nichts zu tun. Der Sachzwang war schuld. Mein Büro hätte im 6. Stock gelegen und das Gebäude hatte, leider, keinen Fahrstuhl.

Doch der Zensor in meinem Kopf meldet auch gegen die Öffentlichmachung der letzten Begebenheit Bedenken an. Immerhin hat die Sache allen Beteiligten ganz furchtbar leidgetan. Sie ließen ein eindeutiges Gespräch mit mir führen. Verwertbare Beweise überließen sie mir dabei aber nicht, für eine Klage gab es keine Basis. Auf diese wunderbare Weise konnte ein Fall von Diskriminierung gar nicht erst entstehen.

Dafür können die Leser aus diesem Beispiel ersehen, wie der Eindruck jener fast paradiesischen Zustände erzeugt wird, von denen uns viele Medien vorsingen. Doch gibt es ja auch solche, die das nicht tun. Wir alle müssen uns engagieren, um diese Gesellschaft zu verbessern. Das heißt auch, den Zensor in sich selbst zu überwinden und Missständen entgegenzutreten, wo sie uns begegnen. Nichts wird besser, wenn wir nur schweigen, in Hoffnung auf den bequemen Weg, auf dem wir selbst nicht anecken.

Als Rollstuhlfahrer zu studieren und einen Platz im real-existierenden Kapitalismus zu finden, heißt, dass selbst bequeme Wege nicht zu gehen sind. Diese Erkenntnis erleichtert und erschwert die Dinge gleichermaßen.

Der Autor ist Sportwissenschaftler. Seine Dissertation »… und für die Ehre unserer Nation(en) - Olympische Deutschlandpolitik zwischen 1960 und 1968« ist im arete-Verlag erschienen (512 S., br., 49,95 €).

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