Heroische Verlierer

Fluchtgruppen gewinnen bei der Tour de France äußerst selten die Etappe - aber schreiben die besten Geschichten

  • Tom Mustroph, Carcassonne
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Tour de France kennt Sieger, natürlich. Sie klettern nach jeder Etappe aufs Podest. Und die, die das in Paris tun dürfen, sind die Übersieger. Würde die Tour jedoch ausschließlich Geschichten von Siegern produzieren, wäre sie nur halb so attraktiv. Heroische Verlierer prägen sie genauso. Denn in ihrem Tun spiegelt sich die Mühsal wider, die ein solches Rennen ausmacht. Ihre Anstrengung wird nicht gekrönt, nicht mit einem Sieg versüßt - und bleibt als Monument vergeblicher Anstrengung zurück.

Eine neue Erzählung dieser Art strickte am Samstag der Belgier Jasper Stuyven. Er gehörte zu den knapp drei Dutzend Fahrern der Fluchtgruppe des Tages zwischen dem Alpenörtchen Bourg-d’Oisans und dem Aeredrome in Mende. Das Peloton, von drei Alpenetappen schwer gezeichnet, ließ die Ausreißer gewähren. Nicht einmal Team Sky mit dem doppelten Alpenkönig Geraint Thomas hatte etwas dagegen, denn kein Klassementfahrer hatte sich in die Fluchtgruppe gestohlen.

Stuyven, Teamkamerad des Frankfurters John Degenkolb, war die kollektive Flucht aber noch zu sehr ein Massenunternehmen. 40 Kilometer vor dem Ziel machte er sich allein davon. Ein Mann vorn, dahinter eine Fluchtgruppe, dahinter in 20 Minuten Abstand das Feld - so ging es in die finalen Kilometer. Eine Minute und 30 Sekunden Vorsprung hatte der Belgier am Fuß des letzten Anstiegs. »Wir wussten, er braucht zwei Minuten, um sicher durchzukommen. Bei 1:30 war klar, es wird ganz, ganz knapp«, schilderte Steven de Jongh, sportlicher Leiter von Stuyven, die Spannungsmomente vom Teamauto aus.

Stuyven kämpfte verbissen. »Aber mit meinen 80 Kilogramm gehe ich an einem solchen Anstieg ein«, beschrieb er selbst die Situation. Etwas Hoffnung hatte er freilich: »Wenn ich 200 Meter länger durchgehalten hätte und bis über die Kuppe gekommen wäre, hätte ich noch eine Chance gehabt.«

Wäre, hätte, wenn - der Konjunktiv ist die klassische Zeitform für Ausreißergeschichten. Stuyven wurde vom baskischen Kletterer Omar Fraile (Astana) und Bergkönig Julien Alaphilippe (Quick Step) eingeholt. Stuyvens Los war doppelt bitter. Denn erstmals bei dieser Tour kam eine Fluchtgruppe auch ins Ziel. Nur das doppelte Ausreißen - die Flucht aus der Fluchtgruppe - machte sich nicht bezahlt.

Was Stuyven empfunden haben muss, kann Sylvain Chavanel gut nachempfinden. Der Franzose, Rekordhalter mit 18 Tourteilnahmen, war über viele Jahre Ausreißerkönig der Großen Schleife. Oft waren seine Anstrengungen vergeblich. Immerhin drei Mal konnte er sich aber über einen Etappensieg freuen. »Das gehört zu meinen schönsten Erinnerungen an die Tour«, sagte er »nd« am Start der 15. Etappe in Millau. Er zeigte sich durchaus gewillt, es wieder vor dem Feld zu versuchen. 420 Kilometer hat er bei dieser Tour bereits in Fluchtgruppen zurückgelegt, berichtete er. Rechnet man das hoch auf seine 18 Tourteilnahmen, kommen zwei bis drei komplette Frankreichrundfahrten zusammen, die er allein oder in kleinen Gruppen vor dem Feld verbracht haben muss. Eine enorme Leistung.

»In Fluchtgruppen zu gehen, ist vor allem Willenssache. Du musst mental bereit sein für den Kampf, um überhaupt vom Feld wegzukommen. Danach ist es einfach schön, allein vorn zu sein. Das genieße ich. Und dann musst du natürlich Glück haben, dass deine Gruppe durchkommt«, erzählt er.

Dass so etwas bei einer Tour de France geschieht sei ungefähr so wahrscheinlich wie das Ausbrechen einer Revolution, konstatierte der Historiker Jean-Baptiste Mignot, der eine dickleibige »Geschichte der Tour de France« geschrieben hat. Mignot bemerkte auch, dass mit dem Zunehmen der Kommunikationsmedien die Chancen für eine erfolgreiche Flucht systematisch gesunken seien. Präzisere Informationen über Zeitabstände erleichtern das Rechnen - und damit das Zurückholen der Gruppen.

Weil in diesem Jahr die Tourteams von neun auf acht Mann verkleinert waren, ließen die Sprinterteams aus Angst, die Gruppen nicht mehr einholen zu können, nur kleine Gruppen mit wenig Feuerkraft weg. Erst nach den Alpen änderte sich das Szenario. Auch am Sonntag war es eine große Gruppe. Unter die 29 Mann hatte Chavanel gleich drei seiner Teamgefährten von Direct Energie gebracht. Mit 39 Jahren Lebensalter lässt der alte Hase jetzt offenbar lieber fahren.

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