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Die andere Möglichkeit

Was wäre, wenn Deutschland dank Mesut Özil Fußballweltmeister geworden wäre?

  • Karsten Lippmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Schreiben ist ein Mittel, seiner Gegenwart und Vergangenheit Herr zu werden. Welches ist also das wichtigste Problem, dem wir als Deutsche beikommen müssen? Das Fernsehen lässt daran nicht die Spur eines Zweifels. Seine Hauptnachrichtensendung dauerte am Dienstag 14 Minuten. Die ersten sieben Minuten davon galten dem Thema, das Deutschland wirklich bewegt: dem Rücktritt Mesut Özils aus »der Nationalmannschaft«, wie es nur kurz hieß. Wir wollen also sehen, ob diesem weltbewegenden Ereignis schreibend beizukommen ist.

Erstaunlicherweise ist das sogar ziemlich leicht: 27. Juni 2018, WM-Stadion in Kasan, ca. 18.42 Uhr Ortszeit: Es steht 0:0. Die deutsche Mannschaft spielt etwas nervös und fahrig. In ungefähr zehn Minuten könnte das erste WM-Vorrundenaus einer deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer Realität sein. Doch noch bemühen sich die Spieler, diese Katastrophe durch immer neue Angriffe abzuwenden. Jetzt kommt der Ball über die rechte Angriffsseite zu Özil. Dessen sehr gute Flanke erwischt Hummels milimetergenau mit dem Kopf und platziert sie im rechten oberen Winkel: »Tooooor«, brüllt Bela Rethy, und kann, bevor ihn seine Begeisterung kurz fortreißt, noch rufen: »Hummels, und Flanke ausgerechnet von diesem Mesut Özil.« Nach ausgiebigem Jubel pfeift der Schiedsrichter aus den USA bald ab.

Der Reporter erzählt etwas von einem »etwas glücklichen, aber insgesamt doch verdienten Erfolg«, davon, dass Deutschland »eine Turniermannschaft« sei, und außerdem sei es »gut für den Fußball, dass das destruktive Spiel der Südkoreaner sich nicht durchgesetzt« habe. Er endet mit den Worten: »So, liebe Zuschauer, ich denke, jetzt müssen wir alle ein wenig durchatmen. Die deutsche Mannschaft beendet die Vorrunde auf Platz 2 der Gruppe F und wird ihr Achtelfinale am nächsten Montag um 16 Uhr spielen, vermutlich gegen Brasilien.«

Im anschließenden Interview führt Joachim Löw aus, ihm sei immer klar gewesen, »dass die Südkoreaner massiv hinten drinstehn werden. Gegen so eine Mannschaft, da musst du geduldig spielen und darfst dich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wir wussten, dass unsere höhere individuelle Klasse sich durchsetzen wird.« Anschließend fragt eine gut gelaunte Katrin Müller-Hohenstein, ob die wichtige Rolle, die Özil bei diesem Sieg gespielt habe, ihm Selbstvertrauen für die bevorstehenden Aufgaben geben werde. Löw antwortet: »Davon bin ich überzeugt. Er ist ein Profi und hat eine unheimlich hohe sportliche Qualität. - Ich bitte auch darum, was immer im Vorfeld gewesen ist, dass man das jetzt ruhen lässt. Wir haben ein wahnsinnig schweres Spiel vor uns, vermutlich gegen Brasilien, und werden unsere Kräfte brauchen.«

Nur vereinzelt wird danach angedeutet, man könne diese Bitte Löws auch als »Maulkorb für die Presse« verstehen. »Ganz Fußball-Deutschland« ist elektrisiert von der Aussicht auf ein neues WM-Spiel gegen Brasilien. Alle »Experten« sind sich einig, es werde diesmal kein 7:1 geben. »Die Brasilianer«, so verkündet jeder Reporter, seien »heiß« auf dieses Spiel. Natürlich haben die meisten von ihnen vorher mit keinem einzigen Brasilianer gesprochen.

Dafür laufen auf vielen Sendern Beiträge darüber, ob man denn »als Arbeitnehmer ein Recht darauf habe, das Spiel am Arbeitsplatz zu sehen«. Wie bei der Frage nach der Praxis der meisten Arbeitnehmerrechte in Deutschland könnte auch hier ein simples »Nein« als Antwort genügen. Da dies aber unpatriotisch ist und außerdem kaum Sendezeit füllt, empfehlen die Beiträge, nach fünfminütigem Palaver, lieb zu fragen und zu versprechen, dass man nacharbeitet.

Das Achtelfinalspiel Brasilien gegen Deutschland bei der Fußball-WM 2018 wird für immer legendär bleiben: Die Brasilianer spielen so, als hätten sie Angst, irgendwie doch wieder sieben Tore zu fangen, die Deutschen so, als sei das Spiel der Fantasie eines Zeitungssatirikers entsprungen: »Beide Mannschaften neutralisieren sich auf niedrigem Niveau.« Doch in der 89. Minute bekommen die Deutschen einen weiteren Eckball: Hereingabe, Durcheinander, Özil liegt im Strafraum. Der Schiedsrichter entscheidet spontan auf Strafstoß. Die Brasilianer protestieren, aber die Entscheidung bleibt bestehen, Thomas Müller schießt und trifft. Deutschland ist im Viertelfinale. Der Elfmeter selbst bleibt umstritten, aber die Begeisterung vieler Deutscher über ihren Viertelfinaleinzug ist so groß, dass sich das Geschäft mit den Fahnen für die Händler zu lohnen beginnt.

Für leichte Misstöne sorgt am nächsten Tag einzig eine Zeitung, die in riesigen Buchstaben titelt: »Özil fiel für Deutschland«. Während dies von links bis in die Mitte hinein als eine unangemessen doppeldeutige Sprache kritisiert wird, ist aus der AfD zu hören, diese Ausdrucksweise »beleidigt das Opfer unserer Krieger in vergangenen Feldzügen«.

Der 2:0-Sieg im Viertelfinale, gegen zu offensive Belgier, die in deutsche Konter laufen, ist fast Formsache. Politisch wirft der Halbfinaleinzug allerdings Probleme auf: Die Mannschaft erreicht nun eine Phase des Turniers, in der es üblich ist, seine gütige Volksverbundenheit durch die Anwesenheit höchster staatlicher Repräsentanten zu demonstrieren.

Doch in der Union diskutiert man darüber, ob es denn angemessen sei, »Putins WM« durch die Anwesenheit der Bundeskanzlerin aufzuwerten. Diese trifft schließlich eine Entscheidung: Milde lächelnd erklärt sie, der für Sport zuständige Minister Horst Seehofer werde in St. Petersburg zugegen sein. Dies sei gerade angemessen. Gerüchte, sie hoffe, seine Rückkehr lasse sich irgendwie vermeiden, sind, natürlich, völlig aus der Luft gegriffen. - Der Minister sieht dann ein langweiliges Spiel zwischen Deutschland und Frankreich, in welchem es nach 120 Minuten 0:0 steht. Im Elfmeterschießen fällt schließlich die auf der Fanmeile in Berlin und überall im Land umjubelte Entscheidung.

Und dann ist der große Tag des Finales da. Auch die Bundeskanzlerin ist jetzt doch selbst nach Moskau gekommen. Allerdings beeilte sich ihr Pressesprecher, vorher zu betonen, sie sei nicht als Staatsgast anwesend, sondern als Fan, auf Wunsch der Mannschaft. Und wer wollte daran zweifeln, da sie uns doch, seit 2006, immer wieder mit Bildern echter Fußballekstase erfreut? Immerhin gibt es dazu auch am 15. Juli Grund: Bis zur 73. Minute passiert nicht viel. Dann schießt Özil von weit hinter der Strafraumgrenze. Er trifft »aus dem Hintergrund« gegen die Mannschaft vom Balkan, wie man am selben Abend noch zu sagen beginnt. Der Rest ist Jubel: Gerührte Spieler mit Pokal, »Sieger-Flieger«, Party am Brandenburger Tor, alles wie 2014, eben nur doppelt so schön. Schon am Abend vorher hatte es herrliche Jubelbilder gegeben, auf denen DFB-Präsident Reinhard Grindel mit Özil, »meinem Freund Mesut«, wie er überschwänglich sagte, zu sehen und zu hören war.

Inzwischen ist »Held Özil«, der uns alle wieder zu Weltmeistern gemacht hat, im Urlaub, aber wir kriegen einfach nicht genug von ihm. Die Trikots mit den fünf Sternen haben dem Sportartikelhersteller Rekordumsätze beschert, und die mit der aufgedruckten »10« waren zwischenzeitlich mehrfach vergriffen. Nun hoffen wir sehnsüchtig auf die Rückkehr von »unserem Mesut« in die Bundesliga. Uli Hoeneß hat bereits geflötet, dass »einer der besten deutschen Fußballer aller Zeiten« selbstverständlich zum FC Bayern gehöre.

In den letzten Tagen ist Özil abgetaucht und versucht, sich an seinen neuen Status zu gewöhnen. Er steht jetzt auf einer Stufe mit Helmut Rahn und Franz Beckenbauer, mindestens. Manchmal ist ihm der Rummel noch etwas unheimlich. Dann überlegt er sich, was wohl passiert wäre, hätte er die Flanke an jenem 27. Juni gegen Südkorea ebenso gut geschlagen, nur dass Hummels sie 50 cm neben das Tor … Nun ja, zum Glück kam es anders.

Der Autor ist Sportwissenschaftler. Seine Dissertation »… und für die Ehre unserer Nation(en) - Olympische Deutschlandpolitik zwischen 1960 und 1968« ist im arete-Verlag erschienen (512 S., br., 49,95 €).

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