nd-aktuell.de / 06.08.2018 / Kultur / Seite 14

Der Deutsche, der keiner mehr sein durfte

Das Leben von Fritz Tucholsky, Bruder des berühmten Journalisten und Literaten, in Berlin

Bettina Müller

Vor 150 Jahren wandert der 1815 im westpreußischen Zempelburg geborene Lehrer Neumann Tucholsky Anfang August 1868 nach St. Louis im heutigen Bundesstaat Missouri aus. Er geht keineswegs freiwillig, sondern folgt seinen Söhnen, die ein Jahr zuvor ausgewandert sind. In seiner neuen »Heimat«, in der er sich nur unter anderen deutschen Auswanderern bewegt, lebt er von einer Rente, seinen Beruf hat er auf ärztlichen Rat aufgeben müssen. Am 19. April 1886 erlangt er vier Jahre vor seinem Tod die amerikanische Staatsbürgerschaft. Am 16. Mai 1890 stirbt er in St. Louis als Newman Tuholske und wird auf dem jüdischen Friedhof »New Mount Sinai« begraben.

Den Erfolg seines Sohnes Hermann hat er noch erlebt. Der 1882 zum Professor für Chirurgie ernannte Mediziner erhält zahlreiche Auszeichnungen und ist zudem Mitglied der in Berlin ansässigen Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Hermanns Tochter Rose ist im Laufe ihres Lebens Mitglied in vielen karitativen Einrichtungen und engagiert sich in Friedensbewegungen wie der Women’s International League for Peace & Freedom. 1899 begeben sich Hermann und Rose auf eine ausgedehnte Europareise, bei der sie auch Station in Berlin machen. Dort wird Rose ihrem späteren Ehemann, dem Berliner Arzt Dr. Ernst Jonas begegnen, die Verlobung des Paares wird zwei Jahre später bekannt gegeben. Und endlich lernen sie auch ihre preußischen Verwandten mit dem Familienoberhaupt Alex Tucholsky kennen, der 1899 von Stettin nach Berlin gezogen ist, wo die Familie eine Dienstwohnung in der Zentrale der Firma Lenz & Co. in der Dorotheenstr. 11 bezieht, für die Alex in Stettin gearbeitet hat. Dort ist am 8. Mai 1896 Fritz Tucholsky, der sechs Jahre jüngere Bruder Kurts, zur Welt gekommen.

Frühjahr 2018. Bei einer Haushaltsauflösung in Missouri wird eine deutsche Patentschrift mit Datum vom 8. Mai 1930 verkauft, deren Inhaber Fritz Tucholsky ist.

»Deutschland, Deutschland über alles« nennt Kurt Tucholsky 1929 sein deutsches »Bilderbuch«, das schonungslos das Land entlarvt, das seine Deutschen scharenweise in die Emigration treiben wird. 1933 packt auch Fritz Tucholsky seine Koffer und verlässt die Eschenstr. 3 in Berlin-Friedenau. Er wird Berlin nie mehr wiedersehen. Auf Druck der Nationalsozialisten hat ihn das Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrsamt entlassen, ursprünglich hat er an der Berliner TH Maschinenbau studiert. Er muss nun befürchten, dass sein Leben wegen seines berühmten Bruders, der sie verbal aufs Schärfste bekämpft, in Gefahr ist, und so flieht er am 31. Mai 1933 zunächst nach Prag. Mit ihm macht sich Edmund Becker auf den Weg, der zum Kreis um Kurt Tucholsky gehört und von einem Polizeibeamten seines Reviers rechtzeitig gewarnt worden ist, dass unmittelbare Gefahr drohe.

Der Briefwechsel zwischen Fritz und Kurt zeugt davon, dass sie sehr aneinander hängen. Kurt maßregelt Fritz vermeintlich streng, gibt aber als älterer Bruder auch fürsorglich Ratschläge. Fritz hingegen ist praktischer veranlagt als Kurt und bei weitem nicht so rastlos. Oft nennt Kurt ihn in Anspielung auf die jüdischen Hohepriester »Cohn«, doch Fritz ist auch schon lange aus der Jüdischen Gemeinde von Berlin ausgetreten. Kurt kann Fritz davon überzeugen, dass Amerika das richtige Emigrationsziel für ihn sei, er selber möchte nicht zu »der schauerlichen Bande«, hält aber seinen Bruder für geeignet, dort zurechtzukommen. Nun tritt Rose Tuholske Jonas vermittelnd auf den Plan und bürgt für Fritz mit einem Affidavit, das Kurt in seinen Briefen kurzerhand in »Affendavid« umtauft. Auch ihr Onkel, der Berliner Verkäufer Rudolf Tucholski, Bruder ihrer Mutter Doris geb. Tucholski, kann so 1938 durch die Hilfe der amerikanischen Verwandtschaft emigrieren.

Am 6. Oktober 1935 erreicht Fritz den Hafen von New York. Die Patentschrift hat er für mögliche Bewerbungsunterlagen mit im Gepäck. Wohnen wird er zunächst in New York bei der Familie von Samuel Weintraub, dessen Schwiegervater, David Tuholske, ein Sohn des preußischen Lehrers Moritz Tucholsky ist, dem Bruder Neumanns. Am 3. Dezember 1935 stellt Fritz sein offizielles Einbürgerungsgesuch. Erst am 7. Januar 1936 erreicht ihn die furchtbare Nachricht, dass sein Bruder am 21. Dezember 1935 an einer Schlafmittel-Vergiftung gestorben ist. Er wird ihn nur wenige Monate überleben: am 3. August 1936 wird er bei einem Verkehrsunfall im Auto von Samuel Weintraub auf der Route 22 in der Nähe von Bethel schwer verletzt und erliegt um 19.30 Uhr im Homeopathic Hospital in Reading einem Schädelbruch.

Die Familie Tucholsky ist in Deutschland bis auf Tucholskys Großcousine Brigitte Rothert, die am 16. August dieses Jahres ihren 90. Geburtstag feiert, erloschen. Gräber findet man noch auf dem jüdischen Friedhof Weißensee, so auch das der Eltern von Ellen, Fritz und Kurt Tucholsky. Doris Tucholsky starb in Theresienstadt, ihr Grab ist daher leer.