nd-aktuell.de / 16.08.2018 / Kultur / Seite 15

Die letzte Zeugin

Die Filmdokumentation »Familie Brasch«: das Projekt DDR, Söhne gegen Väter, die Staatsmacht gegen den Einzelnen

Gunnar Decker

Eine Frau läuft durch New York. Langsam taucht sie aus dem Menschenstrom auf, bekommt eine Kontur, ein Gesicht. So die Anfangssequenz in Annekatrin Hendels Familien-Dokumentation »Familie Brasch« (Kamera: Thomas Plenert). Es ist Marion Brasch, so etwas wie die letzte Zeugin jener dramatischen Geschichte, die da heißt: Einbruch der Zeitgeschichte in die Lebensgeschichte der Einzelnen.

New York? Weiter weg kann man wohl nicht laufen vor dem, was in diesem Film verhandelt wird. Doch ums Weglaufen geht es in »Familie Brasch« eigentlich nicht, eher ums ewig misslingende Ankommen der verschiedenen Generationen bei sich selbst - und heute in einem Land, das die DDR-Geschichte immer noch als Fremdkörper abstößt, sobald sie sich jenseits des simplen Opfer-Täter-Musters bewegt. An den Braschs jedoch wäre zu lernen, wie in der Geschichte Opfer zu Tätern werden und Täter zu Opfern.

Der Sozialismus als Tragikomödie lässt sich an den Braschs aus der Per᠆spektive des jüngsten Kindes Marion Brasch (geboren 1961) erzählen. So wie Heinrich Breloer einst »Die Manns« 2001 aus Sicht von Elisabeth drehte, der jüngsten Tochter Thomas Manns. Wie Breloer plant auch Annekatrin Hendel nach der Dokumentation den Spielfilm, der im kommenden Jahr folgen soll.

Marion Brasch, Tochter des SED-Funktionärs Horst Brasch, hat nun also so etwas wie das letzte Wort über ihre Familie. Mit ihrem Buch »Ab jetzt ist Ruhe« traf sie bereits einen wunderbar unmittelbaren Ton, jenseits der in ihrer Familie üblichen Rechthaberei, um die Geschichte der Braschs als deutsche Teilungsgeschichte zu erzählen. Das Komplizierte schien darin einfach, das Schwere leicht.

Wenn das der Vater und die drei Brüder wüssten, dass ihnen die kleine Marion die Schau stiehlt, letzte Worte über sie alle spricht - und nun auch noch in Annekatrin Hendels Film! Aber so muss es wohl sein. Nach dem großen Weltveränderungspathos, dem einem Krieg ähnlichen Streit darum, wer eigentlicher Inhaber der großen Wahrheiten ist, den der Vater mit den drei Söhnen bis zum bitteren Ende führte, nun das Erinnerungspuzzle aus kleinen Alltagsbeobachtungen, Anekdoten, Mutmaßungen. Man redet an gegen das Vergessen, das unaufhaltsam, mit jedem, der stirbt, mehr seine dunkle Decke über das legt, was einmal war. Einzug ins und Vertreibung aus dem Paradies? Nein, es war die Hölle, sagen die Söhne. Diesem schier unheilbaren Bruch zwischen den Generationen widmet sich dieser Film, der im beste Sinne Aufklärung betreibt.

In »Ab jetzt ist Ruhe« hatte Marion Brasch geschrieben, wie sehr sie das Leben der Brüder fasziniert hatte, wie sie versuchte, so zu sein wie diese. Zum Glück misslang es ihr, und sie musste sie selbst werden - über Umwege, daher kennt sie Annekatrin Hendel, die ebenfalls Umwege ging. Als Marion Brasch (heute Radiomoderatorin) Ende der 80er Jahre Sängerin werden sollte, traf sie ihre jetzige Regisseurin, die damals Mode entwarf und dann als Ausstatterin am Theater arbeitete. Zwei Nischenbewohner mit Ambitionen. Über ihre Brüder schrieb Marion Brasch: »Ich war stolz, ihre kleine Schwester zu sein, auch wenn sie sich für mein Leben immer weniger zu interessieren schienen.«

Thomas Brasch war der Frontmann der Familie. Wie ein Popstar wurde er von den Westmedien nach seinem Weggang (zusammen mit Katharina Thalbach) aus der DDR behandelt. Brasch und Thalbach gehörten 1976 zu den Erstunterzeichnern des Protests gegen die Biermann-Ausbürgerung. 1977 erschien im Westen Braschs Sammelband »Vor den Vätern sterben die Söhne«. Der Titel bereits war mehr als nur eine Kampfansage: eine Absage an die Träume der Vätergeneration, in denen sich die Söhne gefangen gesetzt fühlten. Über Thomas Brasch, der sich effektvoll zu inszenieren verstand, an der eigenen Legende arbeitete, gibt es bereits eindrucksvolle Filmporträts, etwa von Christoph Rüter, der Brasch in seinen letzten Lebensjahren begleitete, dabei seine Selbstzerstörung durch Alkohol und Drogen schonungslos dokumentierte. Der Funke Genialität, der ihm zum Schicksal wurde, leuchtete dennoch, selbst noch im »Mädchenmörder Brunke«, dem Endlosfabulieren seines (im Ganzen unveröffentlicht gebliebenen) Nachwendewerks, das kein Werk sein wollte, Tausende Seiten zwischen Wahn und Hellsicht.

Plötzlich sah er sich selbst in der Rolle, die sein Vater Horst Brasch bislang immer spielen musste: der überhebliche Besserwisser, der nun Kaltgestellte, der für die Westmedien als Dissident ausgedient hatte, einer, den man besser mied, weil er von gestern war. Dieses Schicksal hatte Thomas Brasch sehr wohl begriffen, aber er wollte und konnte dagegen nicht mehr rebellieren. Er zog es vor, abzutauchen in seine eigene Welt, sein »Bergwerk« aus Traum und Paranoia.

Annekatrin Hendel und ihre Kronzeugin Marion Brasch setzen sehr viel früher an: bei den Kindertransporten 1938 aus Nazi-Deutschland nach England. Horst Brasch, katholisch erzogen, für die Nazis dennoch ein Jude, war dafür mit sechzehn Jahren eigentlich schon zu alt, er kam als Betreuer der Kinder mit, was ihm vielleicht das Leben rettete. Bis dahin wollte er Priester werden, stattdessen gründete er nun in England die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Dort traf er seine spätere Frau Gerda, eine Wienerin, die sich scheute, 1946 mit ihrem Mann und dem ein Jahr zuvor geborenen Sohn Thomas in den Osten Deutschlands zu gehen. Sie blieb vorerst in London, folgt ihrem Mann als überzeugte Kommunistin dann aber doch.

Der Film baut akribisch am Lebenstableau der Familie. Da dies unübersichtlich zu werden droht, werden Fotos schon mal mit den Namen der Dargestellten beschriftet. Das droht gelegentlich zum Geschichtsfrontalunterricht zu werden, aber der Stoff hat es eben in sich und verlangt ein differenziertes Urteil. Das liefern dann Christoph Hein, Bettina Wegner, Katharina Thalbach oder Florian Havemann. Durch ihre sehr persönlichen Erinnerungen bekommt das Tableau Tiefe, wird zum faszinierenden Relief einer Kulturlandschaft-Ost. Hier wurden Dramen Shakespeareschen Ausmaßes gespielt, von denen man sich heute keine Vorstellung mehr macht. Söhne gegen Väter, die Staatsmacht gegen den Einzelnen. Das Projekt DDR war das der Generation Horst Braschs, jede Korrektur daran wehrten sie als feindlich ab, bis nichts mehr zu korrigieren war.

Es ist das Drama der Kommunisten an der Macht. Die konspirative Umsturzpartei und die Kaste der Funktionäre versagten. Auch Horst Brasch, ein treuer Diener seiner Partei, der Dogmatiker, ein Sieger der Geschichte, wurde erneut zum Opfer. Diesmal seiner eigenen Genossen. Als Westemigrant selbst von Mit-FDJ-Gründer Honecker beargwöhnt, reichte es immer nur für die zweite Reihe. Weil Thomas Brasch 1968 Flugblätter gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings verteilte und ins Gefängnis kam, verlor Horst Brasch seinen Posten als stellvertretender Kulturminister, wurde nach Moskau auf die Parteischule geschickt und fand sich schließlich als 2. Sekretär der SED-Kreisleitung in Karl-Marx-Stadt wieder. Welch tiefer Sturz! Den hatte er seinen Söhnen, vor allem Thomas, zu verdanken. Tochter Marion erinnert sich mit Schrecken daran. Für das Kind am schlimmsten: In der Schule in Karl-Marx-Stadt musste man Hausschuhe tragen!

Thomas Brasch hörte nicht auf, den Vatermord zu proben. Dass er mit zehn Jahren auf eine NVA-Kadettenanstalt kam (dass es so was überhaupt gab, glaubt man heute kaum noch) und bleiben musste, obwohl er den Vater anflehte, ihn von dort wegzuholen, verzieh er ihm nie. Für Thomas Brasch war es der Seelenmord eines kommunistischen Funktionärs, der die Vaterliebe in sich begraben hatte, am eigenen Sohn. Marion Brasch erinnert in ihrem Buch allerdings daran, dass es Thomas Braschs eigener Wunsch war, auf die Kadettenschule gehen zu dürfen.

Zu den Brüdern gehören auch Klaus, der früh trunksüchtige Schauspieler, der zuletzt in Konrad Wolfs Film »Solo Sunny« zu sehen war und 1980 an einem Alkohol-Tabletten-Cocktail starb, und Peter Brasch, der jüngste der Brüder, der wie sein Bruder Thomas vom Schreiben leben wollte, es aber nicht konnte und, ebenfalls schwer trunksüchtig, 2001 starb. Der Tod des jüngsten Bruders war der letzte schwere Schlag für Thomas Brasch, der ihm im gleichen Jahr folgte.

Warum verstanden sie nicht zu leben, zu überleben? Lauter tief unglückliche Menschen, klammerten sie sich an das, was sie für ihre Mission hielten, starben darüber oder daran. Marion Brasch denkt mit klar blickender Nachsicht, auch Zärtlichkeit an ihren vereinsamten Vater Horst Brasch (die Mutter starb schon 1975), der ebenso stur wie asketisch lebte und dem sie bis zu seinem Tod im Sommer 1989 vertraut blieb, während die Söhne sämtlich mit ihm brachen, jede Versöhnung verweigerten. Vielleicht liegt ja darin der Schlüssel, den Frieden mit einer so unfriedlichen Geschichte zu machen, die mitten durch jeden hindurch geht, der in sie geworfen wurde?

»Familie Brasch«, Deutschland 2017. Regie: Annekatrin Hendel; Buch: Annekatrin Hendel/Jörg Hauschild. 102 Min.