Wer wann von dem Pharmaskandal wusste

Gesundheitsministerin Golze (LINKE) genießt »momentan« das Vertrauen von Ministerpräsident Woidke (SPD)

Krebs ist eine Volkskrankheit. Inzwischen gibt es pro Jahr rund eine halbe Million Diagnosen. Jeder zweite Bundesbürger erkrankt im Laufe seines Lebens an Krebs. Wohl jeder kennt in seiner Familie oder in seinem Freundeskreis jemanden, der an Krebs leidet oder gestorben ist. Gesundheitsministerin Diana Golze (LINKE) geht es nicht anders. Die Ängste der Patienten und ihrer Angehörigen kann sie deshalb gut nachvollziehen.

Die Firma Lunapharm mit Sitz in Blankenfelde-Mahlow soll in Griechenland gestohlene und möglicherweise unwirksame Krebsmedikamente an deutsche Apotheken geliefert haben. Das Landesgesundheitsamt soll auf Hinweise zu den kriminellen Machenschaften nicht schnell und angemessen reagiert haben. Der Skandal hält die rot-rote Koalition seit Wochen in Atem. Am Donnerstag beschäftigte sich der Gesundheitsausschuss des Landtags bereits zum zweiten Mal in einer Sondersitzung mit dem Fall.

Fakten
Von dem Lunapharm-Skandal sind mindestens 220 Patienten in Berlin und Brandenburg betroffen. Nach bisherigen Erkenntnissen haben drei Apotheken 14 Arztpraxen in der Hauptstadt sowie vier Arztpraxen und eine Rehaklinik in Brandenburg mit den Medikamenten beliefert.
Bei einer vom Gesundheitsministerium geschalteten Hotline gab es 956 Anrufe.

175 Anrufer wollen sich über den Rückruf eines den Blutdruck senkenden Mittels erkundigen, der mit Lunapharm nichts zu tun hat. Die meisten Anrufer wollten erfahren, ob sie ein unwirksames Präparat eingenommen haben. Das Gesundheitsministerium kann ihnen das nicht sagen. Die Patienten müssen ihren Arzt oder ihren Apotheker fragen, was sie verschrieben bekommen haben.

Der Medikamentenaufsicht im Landesgesundheitsamt sind 6,25 Vollzeitstellen zugeordnet. Acht Mitarbeiter teilen sich diese Stellen. Überlegt wird jetzt, ob dies für eine wirksame Kontrolle zu wenig war und ob personell aufgestockt werden muss.

Die unabhängige Expertenkommission hat sieben Mitglieder, die nicht alle in Berlin oder Potsdam leben. Im Moment verständigen sie sich per E-Mail und Telefon. Später werden sie sich in Potsdam treffen. af

Wenn ihr nachgewiesen wird, wenn sie zu dem Schluss kommt, dass sie an dieser oder jener Stelle etwas unterlassen hat, was den Patienten geholfen hätte, dann könnte Ministerin Golze über Konsequenzen nachdenken und möglicherweise zurücktreten. Doch sie will wenigstens so lange auf ihrem Posten bleiben, bis der Skandal aufgeklärt ist. Zur Untersuchung der Angelegenheit eingesetzt ist eine unabhängige Expertenkommission mit dem Pharmazeuten Ulrich Hagemann an der Spitze. Ende August soll die Kommission einen Bericht vorlegen.

Zwei Wochen bleiben noch bis dahin. Das sei angesichts der Aufgabe nicht viel Zeit, bestätigt Hagemann. Immerhin sind umfangreiche Akten zu wälzen und viele Gespräche zu führen. Abgeschlossen können die Ermittlungen in zwei Wochen wahrscheinlich noch nicht sein, da bis dahin nicht alle Ergebnisse von Laboruntersuchungen vorliegen werden. Von den Medikamenten werden immer Muster zurückgehalten, die jetzt analysiert werden. Einige wenige Ergebnisse liegen erst vor. Diese besagen, dass die Medikamente einwandfrei waren.

Dabei bleibt die Frage offen, ob die Diebe mit den Präparaten vernünftig umgegangen sind. Glücklicherweise schadet es nicht unbedingt, wenn die Kühlkette unterbrochen wurde. Denn die betreffenden Medikamente müssen nicht die ganze Zeit bei zwei bis acht Grad Celsius gelagert werden. Unter Umständen sind sie selbst bei 25 Grad noch 30 Tage lang haltbar. Diana Golze wusste lange nichts vor den Vorwürfen gegen Lunapharm. Sie hat offenbar erst durch Anfragen des Fernsehmagazins »Kontraste« davon erfahren. Doch der CDU-Abgeordnete Rainer Nowka meint: »Die Verantwortung liegt auch vor Bekanntwerden eines Skandals bei der Ministerin.« Die CDU und die AfD haben bereits vor der Ausschusssitzung den Rücktritt der Gesundheitsministerin gefordert.

Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) verlangt von Golze eine »vorbehaltlose Aufklärung« und wollte in der vergangenen Woche eine Kabinettsumbildung am Ende des Monats nicht ausschließen. Am Donnerstag versicherte er jedoch: »Momentan hat Frau Golze mein volles Vertrauen.« Wenn sie das nicht hätte, »müsste ich sie heute schon entlassen«. Die Maßnahmen, die Golze ergriffen habe, hält Woidke für gut.

Entgegen bisheriger Annahmen sind offenbar die Spitzen des Landesgesundheitsamts und die unmittelbar zuständigen Stellen im Gesundheitsministerium rechtzeitig und umfassend darüber informiert worden, dass es schwere Bedenken gegen die Firma Lunapharm gegeben hat. Aus einer am Donnerstag am Rande der Ausschusssitzung verteilten Chronologie geht hervor, dass seit Dezember 2016 die Fachreferentin des Ministeriums davon unterrichtet war. Bisher stand die Darstellung im Raum, zwei untergeordnete Mitarbeiter des Gesundheitsamtes hätten trotz schwerwiegender Verdachtsmomente sowohl die Leitung des Landesamtes als auch das Ministerium nicht in Kenntnis gesetzt.

Bekannt wurde die Neuigkeit, als der Abgeordnete Rainer van Raemdonck (AfD) darauf bestand, in einer vorherigen Sondersitzung des Gesundheitsausschusses vom Landesamtspräsidenten Detlev Mohr »völlig falsch« informiert worden zu sein. Mohr habe darüber hinaus die ihm unterstellten Mitarbeiter ungerechtfertigt einem Korruptionsverdacht ausgesetzt. Van Raemdock verwies auf die ihm bewilligte Akteneinsicht.

Perplex richtete der Abgeordnete Axel Vogel (Grüne) an die Ausschusschefin Sylvia Lehmann (SPD) die Frage, ob das Dokument nicht allen Ausschussmitgliedern zur Verfügung gestellt werden könne. Dies erfolgte dann noch während der Sitzung in einer vom Ministerium verteilten Übersicht. Der Übersicht zufolge waren mehr als einmal E-Mails mit Hinweisen auf kriminelle Machenschaften und die dagegen eingeleiteten Schritte versendet worden. Aus diesen Akten geht außerdem hervor, dass ein der Korruption beschuldigter Mitarbeiter im März das Bundeskriminalamt informiert und dort um Unterstützung gebeten hat.

Nur bis zur Gesundheitsministerin Golze ist das nicht durchgedrungen. Sie räumt ein, dass sie »nicht vollständig« und auch »falsch« ins Bild gesetzt wurde. Sie habe sich auf Mitteilungen in ihrem Hause verlassen. Nachdem sich das als Fehler herausstellte, habe sie sich öffentlich korrigiert. »Ich kann nicht mit beständigem Misstrauen arbeiten«, bedauerte Golze. Forderungen nach sofortigen personellen Konsequenzen lehnte Golze ab. Sie will den Bericht der Experten abwarten. Wenn sie jetzt nur Abmahnungen aussprechen würde, könnte sie später in der Sache nicht härter durchgreifen. Es könnte sich zeigen, dass sie härter bestrafen muss.

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